Originalteile-Podcast - Folge #80 mit Prof. Dr. Rainer Moritz (Leiter Literaturhaus Hamburg)
Shownotes
Originalteile-Podcast - Folge #80 mit Prof. Dr. Rainer Moritz (Leiter Literaturhaus Hamburg)
Der Grenzgänger aus Heilbronn: Rainer Moritz über seine schwäbischen Wurzeln, deutsche Schlager und die Zukunft der Literatur in digitalen Zeiten.
In der 80. Folge des Originalteile-Podcasts ist Prof. Dr. Rainer Moritz zu Gast – ein kultureller Grenzgänger, der als Literaturhaus-Leiter, Schlagerliebhaber und ehemaliger Fußballschiedsrichter Welten verbindet, die selten zusammenkommen. Mit feiner Ironie und schwäbischem Pragmatismus erzählt der gebürtige Heilbronner von seiner Jugend zwischen Stadtbücherei im Deutschhof und Pfühlpark, wo er als Schiedsrichter strenge Entscheidungen fällte und als Leser die Welt entdeckte. Er schildert die prägende Zeit am Robert-Mayer-Gymnasium und seine unwahrscheinliche Leidenschaft für deutsche Schlager – eine "falsche Sozialisation", wie er augenzwinkernd bemerkt. Der Weg vom Tübinger Germanistikstudenten über die Verlagsstationen in Berlin und Leipzig bis zum Literaturhaus Hamburg offenbart einen Mann, der in kulturellen Zwischenräumen zu Hause ist. Besonders seine Zeit als westdeutscher Verlagsleiter im Leipziger Reclam-Verlag nach der Wende bietet erhellende Einblicke in unterschiedliche Wertvorstellungen und kulturelle Selbstverständnisse. Mit analytischer Schärfe diagnostiziert Moritz die Herausforderungen des Buchmarkts in digitalen Zeiten, plädiert für qualitativ hochwertigere, aber teurere Bücher und erklärt, warum er den deutschen Schlager als Spiegel gesellschaftlicher Entwicklungen betrachtet – ein Thema, das er mit der gleichen intellektuellen Ernsthaftigkeit angeht wie die Hochliteratur. Ein Gespräch über kulturelle Brücken in fragmentierten Zeiten.
Infos zu Rainer Moritz: www.perlentaucher.de/autor/rainer-moritz.html www.literaturhaus-hamburg.de www.leo-bw.de/en/detail/-/Detail/details/DOKUMENT/wlbblb_labi/3826264/Heilbronn%20und%20Umgebung%20%2066%20Lieblingsplätze%20und%2011%20Persönlichkeiten%20-%20Rainer%20Moritz%20Mit%20Bildern%20von%20Roland%20Schweizer
Audio: Philipp Seitz (www.philipp-seitz.de)
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Herzlich willkommen zu Originalteile, dem Leute-Podcast aus Heilbronn und der Region. Vom Autozentrum Hagelauer mit Gastgeber Robert Mucha. (musik) Herzlich willkommen zu Folge achtzig im Originalteile-Podcast, dem Leute-Podcast aus Heilbronn. Heute aus Hamburg bei Rainer Moritz im Literaturhaus Hamburg. Aber vorab noch mal wie immer der Dank an das Autozentrum Hagelauer, das uns seit über fünf Jahren unterstützt und das hoffentlich auch noch eine ganze Weile weiter tun wird. Und jetzt, Herr Moritz, schön, dass ich hier sein darf und auch an Sie die Bitte, wie an jeden Gast am Anfang, ein paar Worte zu sich selbst. Wer sind Sie? Was machen Sie?
Wer ich bin? Wenn man das so wüsste, dann könnte man das einfach beantworten. Aber ich tue mal so, als sei das ganz einfach. Ich bin, deswegen passe ich zu den Originalteilen, glaube ich, ganz gut in Heilbronn geboren, 1958, dort zur Schule gegangen, Abitur am Robert-Mayer-Gymnasium gemacht, äh, habe dann auch meinen Zivildienst noch in Heilbronn gemacht, im Therapeutikum in Heilbronn-Sontheim und bin dann zum Studium nach Tübingen, wollte ursprünglich Lehrer werden. Daraus ist nichts geworden, was sehr viel mit der Lage an Schulen in Baden-Württemberg, äh, zu tun gehabt hat. Mal wurde niemand zugelassen, mal wurden viele zugelassen. Ich habe Germanistik, Philosophie und Romanistik in Tübingen studiert, dort dann auch promoviert über den Stuttgarter Schriftsteller Hermann Lenz, der in Künzelsau aufgewachsen ist. Also auch das hatte mit der Region, äh, zu tun und bin dann sozusagen ins Berufsleben eingestiegen. Zuerst lange im Verlagswesen tätig gewesen, für erst Wissenschaftsverlage, dann Publikumsverlage. Bin so dann 1998 auch nach Hamburg gekommen zum Hoffmann und Campe Verlag, hab diesen Verlag sechs Jahre lang geleitet und jetzt bin ich seit sage und schreibe über zwanzig Jahren hier im Literaturhaus in Hamburg tätig. Ähm, einem der schönsten Literaturhäuser – ich will dem Heilbronner Literaturhaus und Herrn Knittel nicht zu nahe treten –, deswegen sage ich nur einem der schönsten Literaturhäuser Deutschlands wunderbar tätig. Mache im Nebenberuf, wenn man so sagen will, sehr viele andere Dinge noch. Das heißt, ich bin publizistisch immer schon tätig gewesen, auch in ganz jungen Jahren als Literaturkritiker, als Autor, als Übersetzer gelegentlich und kann hier im Literaturhaus – das ist der große Vorteil – sehr vieles, äh, von diesen Tätigkeiten miteinander verknüpfen.
Sehr schön. Jetzt haben wir schon, äh, einen kleinen Eindruck. Hier das Literaturhaus an der Außenalster. Richtig, oder?
Ein prachtvoller Ort, genau.
Genau, das Heilbronner Literaturhaus hat dann nur den kleinen Trappensee seh, aber er ist auch wunderschön auf einer Insel gelegen. Ähm, in Heilbronn geboren und aufgewachsen. Welche Bilder poppen denn auf, wenn Sie an Ihre Kindheit und Jugend zurückdenken?
Ja, das ist immer sehr nah, mir sehr nah geblieben. Meine Mutter lebt zum Glück noch und sie lebt in Heilbronn in der Wohnung, in der ich auch aufgewachsen bin, in der Hundsberg, äh, straße. Das heißt, ich habe mich eigentlich immer nicht mit nostalgischem Impuls, aber immer mit Heilbronn beschäftigt, habe auch publizistisch viel dazu gemacht. Ich habe vor vielen Jahren mal ein Buch, Ich Wirtschaftswunderkind, geschrieben, das nur meine Kindheit in den sechziger, siebziger Jahren in Heilbronn erzählt. Darauf werde ich immer noch angesprochen von Menschen, die sich wiedererkennen, die sagen: „So ging es bei uns zu Hause auch zu, so ging es bei uns an der Schule auch zu." Das heißt, ich bin regelmäßig in Heilbronn privat, äh, und beruflich. Das heißt, äh, mich hat die Stadt nie losgelassen. Ich gehöre also nicht zu den Menschen, die dann irgendwann sagen: „Oh Gott im Himmel, da will ich nie wieder zurückkehren. Äh, damit will ich nichts mehr zu tun haben." Das ist ja auch ein Impuls, der weit verbreitet ist. Nein, ich hatte immer Verbindungen zu Heilbronn, zumal Tübingen, der Studienort jetzt auch nicht aus der Welt war, nicht so weit entfernt. Äh, und deswegen habe ich zu Heilbronn eine enge Verbindung und sehe natürlich die Bilder. Ich habe sie oft auch, wie gesagt, beschrieben in Büchern. Natürlich sind das die Schulwege, die man gegangen ist. Ich war als Fußballschiedsrichter in jungen Jahren aktiv für die Turngemeinde Heilbronn. Den Verein gibt es in dieser Form auch schon nicht mehr. Ich gehe aber gelegentlich dort vorbei, wenn ich in der Nähe, weil meine Mutter wohnt nicht weit weg vom Fühlpark und da, wo die TG Heilbronn früher ihren Platz hatte. Und dann fallen natürlich auch solche profanen Dinge ein, wie Fußballspiele, die man dort gepfiffen hat, letztlich im Fühlpark war ich ganz oft gewesen nachmittags als Bolzer, um Fußball zu spielen. Der Park ist ja einer der schönsten Orte, äh, Heilbronns. Das kann man, glaube ich, nicht anders sagen. Dann gehe ich, wenn ich in Heilbronn bin, immer durch die Innenstadt. Habe noch neulich wieder mal ein Bild gesehen, wie die Fleinerstraße noch von Autos bevölkert ist. Das kann man-- Oder der Marktplatz als Parkplatz genutzt wird. Das kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen. Das war aber noch in meiner Kindheit gang und gäbe dort. Also auf jeden Fall gibt es ganz viele Bilder von Orten, die sich verändert haben, äh, dann Orte, die sich aber gleich geblieben sind. Äh, ich gehe immer wieder, äh, ins Kernerhaus nach Weinsberg, wenn ich in der Gegend bin. Die Weibertreude, da hat sich nicht so viel geändert. Also dann gibt's aber einfach Dinge, die völlig anders geworden sind, Gebäude, äh, die sich verändert haben. Manche Gebäude sind, äh, würde ich mal sagen, immer noch da, wo ich mir wünschen würde, es würde sie nicht mehr geben, wenn ich das Wollhaus Center immer sehe.
Das wird ja jetzt angegangen und bekommt 'ne kosmetische...
Nein, das gehört abgerissen. Man muss es so deuten. Ich weiß doch genau, wie es eröffnet wurde in den siebziger Jahren. Äh, es ist ja fast so schön wie das Shoppinghaus, äh, an der Allee, äh, wo der Südwest, Süddeutsche Rundfunk-- Damals habe ich ein Praktikum dort gemacht im Shoppinghaus als Achtzehn-, Neunzehnjähriger war das, glaube ich. Nein, ich weiß noch genau, wie das Wollhaus Center eingeweiht, äh, worden ist und damals hat man diesen furchtbaren brutalistischen Baustil für den Nabel der Welt gehalten und da ist, glaube ich, nichts mehr zu retten. Aber ich verfolge das gelegentlich auch über meine Mutter und über die Heilbronner Stimme, wie lange sich die Diskussionen hinziehen, was aus diesem scheußlichen Bauwerk werden könnte.
Es gibt ja jetzt zumindest 'n Investor und Pläne, ähm, das war ja jahrelang auch nicht der Fall. Und aktuell sind jetzt Studenten in den Turm gezogen.
Ah, gut, ja.
Da sind jetzt kleine Studentenbuden reingehauen.
Nein, das hat sehr viel-- Das ist etwas, was Heilbronn auch in meinen Augen lange belastet hat: die Zerstörung im Krieg, dann der typische Wiederaufbau mit der damals noch Hortenpassage als Fluchtpunkt in der Fußgängerzone. Deswegen, ich habe einmal ein Buch vor über zehn Jahren geschrieben: „Lieblingsorte in Heilbronn, sechsundsechzig Lieblingsorte in Heilbronn und Umgebung". Und dann haben mich Menschen, die Heilbronn ein bisschen kennen, gefragt: „Was sollen das für sechsundsechzig Lieblingsorte sein? Wo sollen die sein? Wo befinden die sich?" Also Heilbronn hatte immer dieses, äh, schlechte Image einer grauen Maus. Äh, kein ICE hält in Heilbronn. Auch das hat dazu beigetragen. Und das habe ich natürlich immer verfolgt. Wenn man dort selber aufgewachsen ist, sieht man das ein bisschen anders als Ortsfremde. Und ich beobachte aber natürlich auch genau, äh, wie sich Heilbronn jetzt aus der Ferne von mir aus gesehen doch sehr stark verändert hat in den letzten zehn, zwanzig Jahren.
Da kommen wir vielleicht auch später noch ein bisschen dazu. Robert-Mayer-Gymnasium, gab es da Lehrer, die so den Literaturfunken- -ähm, entzündet haben? Also war das mehr Schule als zu Hause familiäres Umfeld?
Ja, mein Elternhaus ist kein bildungsbürgerliches Elternhaus, wo jetzt reihenweise Romane standen. Meine Mutter hat gelesen, mein Vater eher Sachbücher oder den Kicker am Montag. Das war mehr seine Lektüre. Nein, ich habe mir das selber erarbeitet und da haben zwei Dinge eine große Rolle gespielt. Das war die Stadtbücherei, damals noch im Deutschhof. Da bin ich einfach sehr früh hingegangen, habe mir Bücher ausgeliehen, das berühmte Leiheft, so ein graues Leiheft, wo man was hineingestempelt bekommen hat. Wenn man überzogen hat, die Leihfrist, musste man zwanzig Pfennig oder was es war, bezahlen. Das war prägend für mich. Da habe ich mir wirklich Literatur besorgt, auf gut Glück dies und jenes herausgriff. Und dann hatte ich das Glück am Robert-Mayer-Gymnasium, das damals ein sehr strenges Gymnasium war. Zu meiner Schulzeit gab es große Artikel, die kann man heute im Archiv der Heilbronner Stimme noch nach, äh, lesen, wie hoch die Durchfallquote, äh, am Robert-Mayer-Gymnasium war. Äh, sie hatten einen mir eher als furchtbar erinnerlichen Direktor, Direktor Speck.Ein Mann, der sozusagen von strammer konservativer Gesinnung war, an dem sich alle Schülerinnen und Schüler, die nicht so streng konservativer Gesinnung vergriffen haben. Damals hat die Presse groß über das RMG, die Durchfallkurtikulik, die lag, glaube ich, bei über 20% damals geschrieben. Aber ich hatte das Glück, weil Sie darauf angesprochen haben, Deutschlehrer und Deutscheherrin zu haben, die mir wirklich viel auf den Weg gegeben haben. Das war Roland Hermann. Ich kann die Namen noch gut aufzählen: Herr Rufflar, Fräulein Schäffer, wie sie damals genannt worden ist, die, bei der ich eine Philosophiearbeitsgemeinschaft besucht habe. Und dann Dieter Rath, der mich durch die Oberstufe im Deutschunterricht begleitet hat, mit dem ich auch hinterher immer noch – er ist 2018 gestorben – immer noch brieflichen Kontakt hatte gelegentlich. Das heißt, da gab es vier, fünf Figuren, die einfach diese Lust zur Literatur gesteigert haben und denen ich auch im Nachhinein sehr dankbar bin, weil man braucht, glaube ich, solche Angelpunkte.
Und gab es auch Freunde, Mitschüler, die da auch so ein Fable für entwickelt haben oder waren Sie immer allein im Deutschhof?
Nein, nein, nein, ich glaube, ich hatte schon zwei, drei Klassenkameraden. Einer davon, Christoph Kersten, hat mich bis heute begleitet, der auch mit in dieser Philosophie-AG war. Nein, natürlich, das ist ja heute nicht anders. Kann man nicht erwarten, dass ich jetzt Dreiviertel einer Deutschklasse... Ich habe ja noch keine Oberstufenreform gehabt, sondern noch das klassische Abitur gemacht. Man kann nicht erwarten, dass dreiviertel mit Begeisterung Effi Briest lesen mit 15, 16, 17. Das wäre vermessen. Das ist heute ja auch nicht anders. Ich habe meinen Sohn verfolgt im letzten Jahr, in den letzten zwei Jahren, wie er sich durch verschiedene Pflichtlektüren in Deutschland gequält hat. Ich habe förmlich mitgelitten, bis Wilhelm Tell endlich gelesen war. Das war ein Prozess über Wochen. Nein, ich hatte Klassenkameraden, die auch gelesen haben, mit denen man sich auseinandergesetzt hat. Es gab eher ein bisschen damals, ich erinnere das, auch in den Parallelklassen, eine politische Fraktion. Da gab es den politischen Arbeitskreis am Robert-Mayer-Gymnasium. Und dann gab es eher die literarische Fraktion, die sozusagen gesagt hat, wir wollen also Texte nicht unbedingt danach lesen, ob sie jetzt politisch entscheidend sind. Das war die Zeit übrigens, wo Heinrich Böll „Die verlorene Ehre der Katharina Blum erschienen ist, ein Text, der damals unglaublich viel diskutiert worden ist. Also daran erinnere ich mich gerne. Nein, ich war kein Außenseiter, aber wenn man sich sehr stark für Bücher, für Literatur interessiert, dann hat man natürlich nicht die halbe Klasse hinter sich. Das ist klar.
Kicken konnten Sie?
Ich habe ordentlich Fußball gespielt. Ich war auch mal kurz-Das hat es ja dann vielleicht ein bisschen ausgekriegt. Ich war auch kurz mal in der D-Jugend. Das war für Heilbronn ein sehr kurzes Gastspiel war als Torwart ganz gut, war sowohl im Fußball als auch im Handball im Tor, habe da wirklich auch mehrere Jahre gespielt. Fußball war eher Freizeit, war Klassenspiele im Fühlpark oder auf dem Schulhof, die üblichen Dinge. Und im Handball war ich zwei, drei Jahre wie im Tischtennis auch im Verein und habe da gespielt. Und dann kam es eben, als ich 17 war, durch Zufall zu dieser bedeutenden Karriere als Fußballschiedsrichter. Es hat einer gefehlt, keiner wollte pfeifen und dann habe ich das übernommen. Das habe ich sehr, sehr gerne acht Jahre betrieben, auch im Gespann, wie man das damals nannte. Damals gab es Sigma Matike, der auch Obmann, Schiedsrichter Obmann in Heilbronn war und ich war an seiner Seite ein sehr strenger Schiedsrichter. Ich war auch ein strenger... Ich war sein Linienrichter, wie das damals hieß, über mehrere Jahre auch bei Oberligaspiel in Sandhausen oder wo immer wir unterwegs waren. Nein, das habe ich sehr, sehr gemocht, aber es ließ letztlich im Studium, wenn Sie jeden Samstag, Sonntag unterwegs sind, als Schiedsrichter oder als Linienrichter, das ließ sich mit dem Studium nicht mehr so gut vereinen. Dann habe ich zweimal den Aufstieg in die Landesliga knapp verpasst, ganz, ganz knapp. Und dann habe ich gesagt: „Ich muss es leider aufgeben, aber so was prägt einen fürs Leben. Das heißt, wenn ich heute vor dem Fernseher sitze oder im Stadion gelegentlich sitze, rufe ich gelb, rot, Abseits. Man hat das im Blut sozusagen. Also dann habe ich diese Sportlaufbahn immer mitgemacht, war immer ein leidenschaftlicher Mensch, der sich vor allem, wenn Bälle im Spiel waren, Sport, wo keine Bälle im Spiel waren, habe mich nie so interessiert. Aus der Zeit kenne ich übrigens auch Oberbürgermeister Harry Mergel, weil der ja auch ein Fußballer war. Er ist ein paar, zwei, drei Jahre älter als ich, glaube ich, wenn ich es recht weiß. Und da habe ich ihn, er war bei Union Börkingen in ein paar Jahren nach Heilbronn und ich habe ihn, glaube ich, auch mal gepfiffen.
Okay. Und hat die Schiedsrichterei auch, was so ein Gespürbewusstsein für Fairness angeht, beeinflusst oder Ihre Sicht da drauf?
Ja, schon, weil es spielt natürlich Gerechtigkeit eine. Sie wollen ein Spiel gut leiten. Sie wollen auch diejenigen, die über die Stränge schlagen, müssen sie dann sozusagen auch mit gelben oder roten Karten bedenken. Nein, es hat mich aber auch in anderer Weise, glaube ich, geprägt, wenn Sie sich vorstellen, als ich 18, 19 war, dann die ersten Seniore-Männerspiele, also nicht nur Jugendspiele, gepfiffen habe, dann bin ich nach Scheppach, nach Weikersheim, nach Langenbeutingen, Hohenloh bin ich sehr gern gefahren. Da war immer was los. Bretzfeld, Bitsfeld. Dann kommen Sie da als 18-Jähriger, sehen eine Mannschaft, wo 30-Jährige, die seit 20 Jahren da kicken, dann schauen die einen an und sagen: „Was will denn der junge Kerl da? Und dann müssen sie auch ein gewisses Durchsetzungsvermögen haben. Man ist als junger Schiedsrichter im Zweifelsfall eher mutig. Das heißt, man ist kein Heimschiedsrichter. Man will wirklich Gerechtigkeit in jeder Hinsicht walten lassen. Nein, da habe ich sehr viel erlebt, auch natürlich manchmal bedrohliche Dinge, dass man von Besoffenen, wenn das Spiel nicht so ausging, wie Sie es gerne hätten, bedroht worden ist. Das habe ich alles erlebt. Nein, ich glaube, dieses Beharrungsvermögen, dieses auch sich nicht so leicht schockieren lassen von dem, das hat durchaus viel auch mit dieser Schiedsrichterei zu tun gehabt.
Und so eine Position des Unparteischen? Also fanden Sie das schon vorher spannend oder haben Sie das erst durch die Schiedsrichterei so ein bisschen kennengelernt?
Das ging, glaube ich, parallel. Ich habe ja dann Literaturwissenschaft studiert und habe sehr früh auch als Literaturkritiker begonnen. Das ging parallel sogar zwei, drei Jahre.
War es auch da so, dass keiner was schreiben wollte, eine Kritik?
Das wollte ich gerne. Ich schreibe bis heute einfach sehr gerne. Das gehört zu meinem Leben dazu. Gedanken lassen sich oft klarer fassen, wenn sie sie zu Papier bringen. Das gehört einfach zu meinem Leben jeden Tag bis heute dazu. Nein, ich habe damals schon, wenn die Schulmannschaft irgendwelche mit anderen Schulen spiele, habe ich den Bericht geschrieben. In meiner Klasse war er ein paar Jahre lang Klaus Rechkemmer, der sogar bei Epping 'nen Fußballkarriere gemacht hat. Also ein bisschen in die Regionalliga, glaube ich, wenn ich es recht weiß.
Aber hat nicht den HSV aus dem Pokal geschmissen Nein, nein, nein, nein.
Das war ein anderer Jahrgang. Nein, da hatte Klaus Rechkemmer nichts mit zu tun, aber das war der beste Fußballer an der Schule, sozusagen. Und ich habe dann eben früh auch begonnen, solche Berichte zu schreiben für die Schülerzeitung. Das war wichtig am RMG. Ich war lange in der Schülerzeitung, Mittelpunkt hieß die damals. Das heißt, da wurde geschrieben. Ich habe auch meine erste Kritik, die ich für die Heilbronner Stimme geschrieben habe, war eine Konzertkritik. Ich weiß gar nicht mehr, warum ich dazu zu dieser Ehre gekommen bin. Das war eine Hannoveraner Gruppe namens Eloy, die damals populär war.
Aber keine Schlage trug.
Nein, nein, nein, eben nicht. Das war, was weiß ich, wie man das nennt, was die damals gemacht haben. Und ich habe eine scharfe Kritik gleich als 17-Jähriger gleich geschrieben. Vor ein paar Jahren hatten wir irgendeine Redakteurin da halt von der Stimme.
Ein technisch jung Schiedsrichter.
Ja, genau. Schon ähnlich, ein bisschen nach dem Motto: „Wir schreiben jetzt nichts Weichgespültes. Und vor vielen Jahren – ich muss den Text irgendwo zu Hause haben – hatte mir eine Redakteurin der Heilbronner Stimme aus dem Archiv auch diesen Text besorgt. Das war sozusagen, wenn Sie wollen, der Anfang. Das ging immer Hand in Hand, dieses Schreiben über das Leben, über Dinge. Und das Schiedsrichtern und das Arbeiten als Literaturkritiker hat natürlich auch was miteinander zu tun. Klar, mein Bruder hat immer behauptet, das sei völlig logisch, dass ich so arbeite.
Noch mal zurück zur Jugend. Was hat Heilbronn kulturell geboten, auch vielleicht für so einen literaturinteressierten jungen Menschen? Oder musste man da schon weg?
Ich glaube, da ging es das Vorfeld der Bundesgartenschau schon. Der schloss dann sinngemäß damit, äh, Heilbronn zählt zu den aufstrebendsten Großstädten Deutschlands. Dass ich das noch erlebe, hätte ich nie für möglich gehalten. Jetzt muss nur noch ein ICE-Anschluss nach Heilbronn kommen. Dann bin ich völlig perplex, weil das war-- Ich fahre häufig mit dem Zug natürlich nach Heilbronn und zu den spannendsten Minuten in meinem Leben kommt immer die Umsteigesituation in Würzburg. Man hat sieben oder acht Minuten möglich. Wenn der ICE pünktlich ist, hat man sieben oder acht Minuten. Und natürlich wartet der Regionalzug nach Stuttgart nicht auf den ICE, der aus Hamburg kommt. Also wie oft ich in Würzburg schon ein oder zwei Stunden länger als geplant verbracht habe, will ich gar nicht aufzählen. Also von der Ferne aus betrachtet hat sich Heilbronn wirklich, äh, gewandelt. Hat, ist Heilbronn, äh, auch vielleicht keine Beispielstadt, aber doch eine Beispiel dafür, wie man ein Image auch abstreifen kann. Äh, ich wundere mich im Gegensatz dann immer, äh, dass - kann ich aber aus der Ferne nicht so gut begründen - wenn ich die Wahlergebnisse anschaue, wie hoch der AfD-Anteil, äh, in Heilbronn nicht erst jetzt ist, sondern ja schon immer war, das verblüfft mich, äh, immer ein bisschen. Dafür mag es Gründe geben, die ich aus der Ferne nicht, äh, beurteilen kann. Nein, es ist, äh-
Ich glaub, da ist ganz stark die, äh, russlanddeutsche Community auf der Böckinger Schanz.
Ah, okay. Ja, nee, das kann ich, das-- Ich sehe nur immer, die habe jetzt auch die Ergebnisse bei der letzten Wahl. Das waren, glaube ich, über zwanzig Prozent in Heilbronn. Das ist, äh, schon viel Holz, wo man sich wundert.
Also ich glaube, die waren sogar noch mal stärker bei irgendwelchen Kommunalwahlen, äh, war's der höchste Anteil in ganz Baden-Württemberg.
Ja, ja. Nein, man hat natürlich auch-- Es gibt dann immer einzelne Flecken, wir haben den Deutschoff schon erwähnt. Dann gibt es Buchhandlungen, in die ich immer gegangen bin, die es heute alle nicht mehr gibt. Nein, Stritter, da ist man nur wegen Schulsachen hingegangen, weil das so nah am RMG war. Nein, ich war – darüber habe ich auch ein paar mal geschrieben – natürlich ein treuer Kunde bei der schönen Buchhändlerin Carmen Tabler in der Titowstraße. Mit deren Tochter hatte ich auf dem Theaterschiff Heilbronn die letzten Jahre immer wieder zu tun. Nein, und ich war natürlich Determann, äh, Kunde und wenn ich jetzt Veranstaltungen in Heilbronn habe, dann kommt das Ehepaar Determann, äh, immer noch ganz regelmäßig. Wir haben auch so einen losen Mails-Kontakt.
Da ist uns das treu.
Ja, nein, das schon. Das gehört einfach dazu, weil ich da wirklich die Bücher gekauft habe, äh, in meiner Jugend. Ich habe auch Lesungen und ich habe ja über Hermann Lenz promoviert und der hat nocht zweiundachtzig, da war ich in Tübingen schon im Studium, hat in Heilbronn gelesen bei Determann und da war ich, bin ich gekommen und habe ihn angesprochen, Hermann Lenz, ob ich ihn mal besuchen dürfe in München, weil ich wollte über ihn eine Staatsexamensarbeit schreiben. Und sofern hat auch diese, äh, wissenschaftliche Beschäftigung, äh, mit einem Autor in gewisser Weise in Heilbronn, damals noch in der Kirchbrunnenstraße, äh, bei Determann begonnen.
Und nehmen Sie die Stadt jetzt auch internationaler oder jünger wahr? Oder ist der Student das unbekannte Wesen in Heilbronn Ihnen auch noch nicht so richtig untergekommen?
Dazu bin ich zu selten da. Ich müsste da mal wieder eine Woche da sein oder zwei Wochen, äh, verbringen, äh, dann könnte ich das besser wahrnehmen. So habe ich jetzt meine bestimmten Anlaufstellen, wo ich immer hingehe. Äh, ich bin Zigarillo-Raucher, wenig Zigarillos, aber ich rauche Zigarillos. Sie riechen es wahrscheinlich hier auch in meinem (lacht) Büro und da habe ich in der Sülmerstraße mein Tabakgeschäft. Früher war ich bei Flören ab und zu, jetzt ist es, äh, bei Sasse, wo ich mich eindecke. Und so hat man ein paar so Anlagen, wo ich immer meinen Kaffee trinke. Also das ist-- Aber es sind eben meistens immer nur ein, zwei Tage, die ich in Heilbronn bin. Also um das zu beurteilen, müsste ich wirklich länger am Stück dort sein.
Das Theaterschiff haben Sie angesprochen. Ähm, das ist ja jüngere Macher.
Ja.
Vielleicht sehen Sie zumindest da einen Teil der jüngeren Leute, die was machen. Gab's früher zu Ihrer Jugendzeit auch solche jungen Initiativen? Und wie nehmen Sie da den Philipp und Tobias und das Theaterschiff und was die machen wahr?
Aus meiner Jugend kann ich gar nicht – habe ich vorhin ja schon gesagt – gar nicht so viel sagen, weil ich, äh, wenn man viel liest, wissen Sie, dann sitzt man zu Hause auf dem Sofa oder am Schreibtisch und liest einfach. Das hat mir auch mein Berufsleben hier, ob das in Berlin, Leipzig oder Hamburg war, immer begleitet, dass ich gar nicht so viel rauskomme. Sie müssen denken, hier im Literaturhaus, wir haben zwei bis drei Lesungen pro Woche. Dann bin ich selber unterwegs noch mit Lesungen oder Vorträgen. Das heißt, ich habe völlig vernachlässigt in den letzten zwanzig Jahren: Theaterbesuche, Kinobesuche. Das wird sich hoffentlich wieder ein bisschen ändern. Insofern habe ich damals aber auch als Jugendlicher von der Heilbronner Szene gar nicht so viel mitbekommen. Beim Theaterschiff ist es interessant, weil da war ich immer mal wieder, äh, zu Gast, vor allem mit-- Ich habe ja die merkwürdige Leidenschaft für den deutschen Schlager, die sich ja in vielen Publikationen auch mittlerweile geäußert. Da war ich ein paar mal auf dem, äh, Theaterschiff Gast und jetzt, als dann dieser Wechsel kam, der ja wirklich – ich habe das immer im Programm verfolgt – schon auch ein radikaler Programmwechsel war. Ich hoffe, dass es auch funktioniert. Das kann ich aus der Ferne nicht beurteilen. Und da war ich eher skeptisch und habe gedacht, die jungen Leute wollen sicherlich keinen Schlagerabend machen. Habe sie angeschrieben. Ich hatte mit anderem für eine Jurysitzung mal mit ihnen, äh, zu tun. Und dann war aber auch die Meine Frau sagt: „Das können wir gerne machen." Wir hatten jetzt im letzten Jahr-
Oktober.
-einen Schlagerabend mit Wolfgang Sellier, äh, dem Stuttgarter Entertainer dort. Und das war, äh, dort immer die-- Ich mag die Atmosphäre dort, äh, im Theaterschiff. Das ist krass für so einen Schlagerabend, wenn die Leute da mitsingen und sich nicht mehr sich gehen lassen in gewisser Weise. Ich bin jetzt im April wieder, äh, dort, äh, und sie haben gleich selber, auch wenn ich wieder Lust hätte, soll ich ein Programm-- Ich habe ein neues Programm jetzt dabei im April. Insofern, äh, wie das funktioniert, dieses junge Programm auf dem Theaterschiff, das war ja früher eher klassische Komödie, leichtere Dinge. Das kann ich nicht beurteilen. Ich hoffe, dass es funktioniert.
Mhm. Verfolgen Sie den VfR seit Neugründung?
Ja, ich bin auf Facebook, folge ich dem VfR Heilbronn natürlich, weil das waren für mich, muss ich wirklich sagen, ganz prägende Momente. Die hätte ich vorhin schon erwähnen sollen. Ich hatte ja das große Glück, als ich dreizehn, vierzehn, fünfzehn war, äh, die Hochzeit des VfR Heilbronn zu erleben. Ein Jahr zweite Bundesliga, damals noch geteilt, äh, sogar Pokalsiege gegen Augsburg mit Helmut Haller, damals noch dem ehemaligen Nationalspieler, gegen Kickers Offenbach. Ich könnte die Mannschaft teilweise – ich habe das in ein, zwei Büchern ja auch beschrieben – noch aufzählen. Einige Spieler, äh, die dort dabei waren, da hatte ich auch Idole: Torwart Pfeiffer, Werner Pfeiffer, Hägele im Sturm. Dann gab es Gallo Hagner. Das war ein berüchtigter Spieler, ein berüchtigter Spieler.
Der ist Ende letzten Jahres gestorben.
Das habe ich sogar gelesen. Hägele ist auch tragisch gestorben, vor einigen Jahren schon. Nein, Gallo Hagner, allein schon der Name war großartig, weil der hatte einen Mordsbumms, wie man früher noch im Fußball gesagt hat, war immer von roten Karten und Platzverweisen bedroht natürlich. Nein, diese Heilbronner Mannschaft war damals sensationell. Sie hat wirklich obersten Fußball gespielt und ich war eben genau in dieser-- Immer im Stadion. Ich war ganz oft im Stadion. achtzehntausend Zuschauer, ausverkauft. Ich stand immer an der Badstraße an einer Stelle, wo ich als vierzehnjähriger mich extra zu Erwachsenen gestellt habe und dann mitreden wollte, mitreden durfte, wenn es über Abseitsentscheidungen oder sonst etwas ging. Nein, diese Besuche im Stadion waren ganz prägend. Mein Vater war oft auch mit dabei. Äh, der stand aber, glaube ich, eher woanders. Und der hatte die unangenehme Eigenschaft-
Ihr seid zusammen ins Stadion und dann getrennt?
Ich glaube, er ist-- Also ich kann mich nicht erinnern, dass ich neben meinem Vater oft gestanden bin. Er war auch nicht so oft im Stadion wie ich, muss ich sagen. Aber mein Vater hatte die unangenehme Eigenschaft, weil er mit dem Auto meistens kam und dann hat er Angst, er steht dann im Stau, wenn alle das Stadion verlassen, sodass er meistens das Spiel fünf, sechs, sieben Minuten vor Spielschluss verlassen hat. Wenn er mal allein im Stadion war und ich nicht, weil ich ein Spiel zu pfeifen hatte, weil man konnte sich nie darauf verlassen, das Ergebnis, dass mein Vater-- Damals gab es noch kein Smartphone, wo man schnell mal nachprüfen konnte, wie ist das Spiel ausgegangen. Nein, diese Stadionbesuche haben mich wirklich begeistert, weil diese Atmosphäre dort... Und dann habe ich natürlich den grauenvollen Niedergang, äh, immer wieder verfolgt. Ich habe immer wieder auch auf die Tabelle geschaut. Die unfassbare Fusion mit Union Böckingen, das wäre undenkbar gewesen in den siebziger Jahren. Und deswegen war ich dann fast gerührt, als ich dann diese Neugründung mitbekommen habe. Wie gesagt, ich folge dem Verein auf Facebook, habe auch ab und zu mal einen losen Kontakt, äh, per Mail oder sonst was, äh, zum Vorantreiben.Die große Aufstiegswelle ist ja jetzt wohl gebrochen in diesem Jahr. Jetzt muss man hoffen, dass man nicht absteigt. Also Sie sehen, ich bin mit der Tabelle vertraut letztlich, aber es ist natürlich schon ein Kuriosum, wie man das...
Ja, jetzt am Samstag geht es los mit der Rückrunde.
Ich habe es gesehen. Ich habe auch auf meinem...
Tübingen.
Ich habe auch auf der FODMOP-App, die ich auf meinem Handy habe, wo Sie auch die albanischen Ergebnisse bekommen. Da habe ich den VfL Heilbronn markiert, natürlich, und so dass ich immer informiert bin, was passiert. Und nein, es wäre sehr schön. Ich habe ja immer schon eine Schwäche gehabt für die Underdogs. Ich bin Mitglied des TVs vor 1860 München, seit Kindesbeinen Anhänger des Vereins und das ist auch ein Verein, der in die tiefsten Niederungen gefallen ist. Im Moment ist man wieder froh, wenn sie nicht absteigen beim VFV Heilbronn muss man, glaube ich, dieses Jahr auch allein darauf setzen, dass sie die Liga erhalten. Mit dem Aufstieg wird das nichts werden in diesem Jahr. Aber trotzdem hat dieser Verein natürlich Erstaunliches geschafft. Das ist ja ein Schicksal, das viele Vereine haben, dass sie dann zugrunde gehen irgendwann. Das ist ja für einen Fußballfan eigentlich das Schlimmste, wenn es den Verein, den man geliebt hat, nicht mehr gibt, wenn er einfach aufhört zu existieren. Es hat ja immer wieder solche Neugründungen dann zum Glück gegeben. Also ich bin aus der Ferne, aus der Hamburger Ferne beim VFR Heilbronn ganz dicht dabei.
Sehr schön. Wann kam das Interesse für den deutschen Schlager auf?
Ja, ich habe es einfach Ich mache bis heute regelmäßig Veranstaltungen. Ich habe jetzt auch in diesen Tagen wieder ein paar Schlagerabende hier in der Gegend. War neulich in Fellbach gewesen bei einer Buchhändlerin. Nein, ich bin einfach falsch sozialisiert worden, wenn Sie so wollen. Das heißt, ich habe wirklich, fragen Sie mich nicht, warum, die falsche Musik gehört. Ich habe natürlich englische Popsongs schon auch gehört. Ich habe aber dann als 13, 14, 15-Jähriger eben...
Gelesen und nicht mitbekommen, was in den Schatten läuft.
Mein Vater, der nie das zu mir singen konnte, hat Schlager gehört, aber die wurden jetzt bei uns zu Hause auch nicht ständig gespielt. Und dann habe ich aber wirklich mit 13, 14, 15, da war ich wirklich Außenseiter. Bernd Klüver, der Junge mit der Mundharmonika, habe die ZDF-Hit-Parade, habe meine eigene Hit-Parade immer abgetippt. Nächstes Mal eine subjektive Hit-Parade jede Woche gemacht. Die Zettel müsste ich eigentlich noch irgendwo zu Hause haben mit der Schreibmaschine. Nein, ich habe diese falsche Musik gehört, diese damals ja tief verachtete Musik. Das war damals viel schlimmer als heute. Da hat sich auch einiges getan und habe das dann immer verfolgt.
Was haben Sie sich da anhören müssen von Mitschülern?
Ja, das können Sie wohl auch nachlesen in Doktorarbeiten, die in den 70er entstanden sind. Da war der Schlager „Opium fürs Volk, „Volksverdummung. Da ist ja auch an allem etwas Wahres dran, wenn man Heino oder ähnliche oder Tony Marshall hört, die ich immer etwas meide in meinen Programmen. Dann habe ich aber natürlich auch die Kuriosität des Schlagers, der Pop-Branche, wenn Sie so wollen, wahrgenommen. Habe dann den Schlager natürlich auch immer wieder, und das tue ich bis heute, interpretiert als Kulturgeschichte Deutschlands. Das heißt, Sie können an der Entwicklung des Schlagers, ähnlich wie an Fernsehserien, sehr viel nachzeichnen: Wie hat sich Deutschland verändert? Wann hat der Schlager plötzlich angefangen, moderner zu werden? In den 70er Jahren ändert sich da sehr viel. Und mittlerweile ist das für mich ein großes Vergnügen. Und wie gesagt, ich versuche eben, in einer Distanz gegenüberzustehen. Aber natürlich habe ich auch eine Faszination für die merkwürdigen Ausformungen, die der Schlager hatte. Ich hatte hier in Hamburg eine schöne Begegnung. Ich habe ein kleines Büchlein über Udo Jürgens bei Reclam vor zwei Jahren geschrieben und hier in Hamburg lebt Michael Kunze, einer der bekanntesten deutschen Schlager Texter, der auch alle Musicals ins Deutsche gebracht hat, wohnt sehr großzügig. Da habe ich mein Berufsleben etwas falsch gemacht. Ich hätte ein paar Schlager Texte schreiben sollen, wo die GEMA-Gebühren so zusammen bis heute klingeln. Und Michael Kunze hat Griechischer Wein. Ich war noch niemals in New York geschrieben. Also man kann wirklich am Schlager viel aufzäumen, kann wirklich Kulturgeschichtliches lesen, natürlich auch viel Kurioses, Absurdes. Und das spieße ich in meinen Veranstaltungen eben auch auf, lasse Lieder einspielen. Und dann stelle ich doch immer wieder fest, dass dann hinterher Menschen zu mir kommen und die sagen: „In meiner Jugend habe ich nie Schlager gehört. Das war meine Mutter, die hat „Sie wünschen wir spielen im Radio gehört vor dem Mittagessen. Aber auch die Leute können, weil die Beschallung einfach damals viel geringer war, können sehr viele Texte, haben sehr gute Textkenntnisse und wenn eine neue Liebe ist wie ein neues Leben gespielt wird, können die mitsingen.
Und die literarische Auseinandersetzung mit Schlager, hat die mit Schlager aus dem Ländle angefangen?
Nein, das waren die klassischen ZDF-Hit-Paraden, Disco. Ich habe bis heute immer wieder einen losen Kontakt übrigens mit Ilja Richter von Gisko, der sich ja mittlerweile ganz anders entwickelt hat, als Schauspieler, als Buchautor zugange ist. Wir telefonieren ab und zu mal im Jahr und sehen uns auch ab und zu mal. Nein, das hat gleich mit dem Schlager eben durchs Fernsehen, durch die Rundfunk Radio Luxemburg, was man damals auch noch an Hit-Paraden alles gehört hat. Und die schwäbische Beschäftigung ist jetzt erst in den letzten zwei, drei Jahren dazu gekommen, als ich mit einem Freiburger Verleger gesprochen habe, bei dem ich ein Buch veröffentlicht hatte über Heldinnen und Helden des Südwestens. Und dann kamen wir auf die Idee, eine baden-württembergische Hit-Parade zu machen. Das ist sozusagen das letzte Buch, das wir auf dem Theaterschiff auch im letzten Jahr vorgestellt haben.
Und waren Sie schon mal bei Andrea Berg in Großaspach auf dem Wochenende?
Nein. Ich lese das immer mit hohem Interesse. Ich versuche mal-Ich stehe auf der Backe, kriegs... Nein, ich suche meinen Ikonen auch nicht zu nahezukommen. Das ist nicht immer gut. Nein, ich habe hier einmal – das beschreibe ich auch in einem Buch – ein Konzert von ihr. Das durfte ich fürs Hamburger Abendblatt hier. Die hatten mir den Auftrag gegeben, den sehr schönen Auftrag, eine Konzertkritik zu schreiben. Da war sie damals, hieß sie noch Barclay's Arena also neben dem Volksparkstadion. Ich glaube, 10.000 Menschen waren da. Das war sehr interessant, sehr aufschlussreich und ich habe auch, glaube ich, einen ganz schönen Text darüber geschrieben. Ich war mal Howard Carpendale, habe ich auch mal eine Konzertkritik geschrieben. Der war nicht so glücklich, hat sich bei der Redaktion dann beschwert über meinen Artikel. Nein, ich versuche, diesen Konzerten nicht so nahezukommen. Ich nehme das natürlich wahr, was bei Frau Berg zu Hause passiert. Jetzt im Sommer, habe ich gesehen, drei Termine sind jetzt angekündigt für diesen Sommer. Nein, aber das muss ich nicht unbedingt haben.
Also privat auf so ein Konzert würde Ihnen nicht passieren?
Nein, ich bin sowieso kein großer Musikkonzertgänger, auch aus Zeitründen. Aber ich höre, wenn Sie das Glück hätten, mit mir Auto zu fahren. Da habe ich natürlich auf meinem Handy hunderte von Songs. Die müssen dann im Auto auch lautgestellt werden. Wenn ich Schlager höre, dann ist es wirklich fast immer im Auto. Oder wenn ich zur Vorbereitung von irgendeiner Veranstaltung, dann muss ich natürlich auch hier oder zu Hause am Schreibtisch bestimmte Dinge nachhören. Großes Glück ist ja YouTube, was ich dort wirklich die ältesten Schlager auf einem Schlagerfestspiele in Baden-Baden, die waren in den 60er Jahren ungeheuer populär. Da hat sich Malmquist mal gewonnen mit „Liebeskummer lohnt sich nicht. Das können Sie alles nachsehen. Das können sie alles auf YouTube nachsehen. Das ist ein großer, großer Gewinn. Aber im Auto, wie gesagt, mein Spezialgebiet: Ich darf morgen wieder zweimal zwei Stunden Autofahren. Da freue ich mich jetzt schon drauf.
Und dann wird mitgesungen, oder?
Ich singe sehr schlecht.
Aber im Auto ist es ja egal.
Wollte ich gerade sagen: In meiner Schulzeit – das habe ich auch ein-, zweimal schon beschrieben – bei Musiklehrer Kretschmer. Wir mussten damals noch vor der Klasse singen und wurden dann benotet. Das war das Schlimmste. Schlimm als jede Physikarbeit in meiner Schulzeit. Da habe ich wirklich gelitten, als das vorbei Meine Note wurde auch immer schlechter, weil ich einfach sehr sangesunbegabt bin. Aber diese Auftritte am Robert-Mayer-Gymnasium waren furchtbar.
Da muss man durch, wenn man bestehen will. Ja.
Aber ich bin froh, dass es das heute, glaube ich, nicht mehr gibt, dass man vor gesammelter Klasse ein Lied vorsingen muss und dann benotet, weil ich glaube, das gibt es nicht mehr. Es gibt also doch Fortschritt in unserer Gesellschaft.
Und dann ging es nach Tübingen?
Ja, das war...
Ich wollte wie gesagt-War es schwer, von Heilbronn wegzugehen oder war da schon auch die Sehnsucht groß?
Nein, das war dann schon völlig in Ordnung. Ich habe, wie gesagt, meinen Zivildienst noch dazwischen gemacht. Da habe ich zu Hause gewohnt. Das war aber auch schon sehr prägend, weil das eine ganz andere Welt war. Das war...
Welche war da so die spannendste, die herausforderndste?
Das war alles, äh, ich möchte keine missen von diesen Stationen. Berlin war natürlich 'n radikaler Wechsel in meinem Leben, zumal auch im Privatleben es damals einen Bruch gab. Das heißt, ich bin damals, wie alt war ich? '33, äh, allein von Tübingen noch, auch von Kiebingen sogar, also zwischen einem Dorf zwischen Tübingen und Rottenburg, wo ich damals gewohnt habe, äh, allein nach Berlin gewechselt auf diese Stelle dort beim Erich Schmidt Verlag, auch ein Wissenschaftsverlag. Und das war natürlich schon ein ordentlicher kultureller–, das war '91, also auch sehr spannend, direkt nach der Wende nach Berlin, äh, zu kommen.
Was hat da die Mietwohnung gekostet?
Ja, das war– ich hab immer Fehler gemacht. Ich war, als ich '91 nach Berlin kam- -war es teuer.
Mhm.
Also ich-- es wurde dann im Laufe dieser-- Ich war bis '95 in Berlin, dann wurden die Mieten immer billiger. Da gab's diese Phase, wo's immer billiger wurde. Dann bin ich '95 nach Leipzig zum Reclam Verlag gekommen. Da war ich auch zu früh drei Jahre. Da waren die Mieten vergleichsweise noch hoch. Sie wurden dann, weil so viel gebaut worden ist, der berühmte Herr Schneider, äh, dann waren-- gab's Wohnungen zu Hauf, äh, in Leipzig. Dann kam sogar, werd' ich nie vergessen, äh, mein hessischer Vermieter in Leipzig hat mich aufgesucht und hat mir angeboten, die Miete zu senken-
Mhm.
-wenn ich nur in der Wohnung bleibe, weil damals war in Leipzig gab's Wohnungen- -lagen auf der Straße, unvorstellbar auch in Leipzig mittlerweile.
Ja.
Unvorstellbar. Nein, diese Berliner Zeit war natürlich wichtig, auch von, unter persönlichen Gesichtspunkten. Die Zeit in Leipzig möchte ich auch nicht missen. Das war '95. Ich war der einzige damals Programmchef des Reclam Verlages. Die hatten damals noch eine Dependance, äh, in Leipzig. Äh, da war ich der einzige Westmitarbeiter und dann als Chef quasi gleichzeitig. Das heißt, das war unglaublich, auch sich darauf einzulassen, auch die unterschiedlichen Wertvorstellungen mitzubekommen.
Mhm.
Das war die Zeit, wo in Leipzig '96 gleichzeitig die neue Messe eröffnet wurde, der Bahnhof neu eröffnet wurde, das Haus des Buches, wo heute das Literaturhaus Leipzig drin sitzt, eröffnet wurde. Also diese drei Jahre, es waren nur drei Jahre oder dreieinhalb, äh, die waren natürlich auch famos und hier in Hamburg dann beim Hoffmann und Campe Verlag, das war 'n sehr großer Verlag, damals zumindest. Da war sozusagen die, äh, berufliche Herausforderung noch mal, äh, stärker, weil das Verlagswesen war damals schon, äh, kein goldener Boden. Das heißt, das waren anspruchsvolle sechs Jahre.
Und haben Sie da wahrscheinlich in Leipzig mehr als in Berlin auch so 'n bisschen die ostdeutsche Seele und Befindlichkeit kennengelernt? Weil viele fragen sich ja jetzt- -so, warum ist irgendwie Ostdeutschland, so wenn man die Wahlen sich anschaut- -so blau eingefärbt- -et cetera pp. Und es gibt Erklärungen, wie ich finde, die da, die das so 'n bisschen...
Also ich war stark auf Leipzig natürlich konzentriert. Leipzig war untypisch 'n bisschen bis heute. Leipzig war zu DDR-Zeiten ja schon Messestadt, hatte internationale-
Genau.
-Kontakte. Das war nicht repräsentativ, wenn ich gelegentlich, auch heute, aber damals auch im Osten unterwegs bin, wenn sie in, in Städte kommen, in Anklam oder wo auch immer, da ist ja bis heute die Tristesse, da versteht man, warum da Menschen sich abgehängt fühlen natürlich.
Ich hab in Leipzig studiert und ich hab dann verstanden, warum's dort losging.
Als Bewegung meinen Sie?
Ja.
Ja, ja. Nein, also Leipzig war wirklich, äh, aufregend, auch ich hab's gesagt, ich war der einzige Westimport und wurde natürlich kritisch beäugt. Ich weiß noch, es gab eine alte Lektorin, die schon zu Reclam Leipzig seit der DDR, äh gearbeitet hat. Äh, die hatten aufgrund von Papiermangel nicht viele Bücher zu betreuen im Jahr, aber ungeheuer intensiv. Da wurden Bücher viel besser und genauer lektoriert damals. Und jetzt hat die Frau, die für Slavistik, für Judaica zuständig war, welcher dann bleibt, ein Programmsegment, das man eher einschränken musste, weil man ja 'n populärer Verlag auch in Leipzig sein musste. Und, äh, die Lektorin, die alt, die hat mich natürlich sehr kritisch erst mal angeschaut. Was will denn dieser Kerl da aus Berlin? Äh, was bringt er da für neue Ideen? Und, äh, nein, ich glaube, ich habe-
Sie wurden als Berliner und nicht als Schwabe befragt?
Nein, ich war, ich hab, bin ja heute eher der Schwabe als der Hamburger. Und nein, ich, äh, habe versucht, mich einfach drauf einzulassen- -auf die Menschen. Man merkt sehr schnell, das spüre ich sogar bis heute, wenn ich mit Menschen zu tun habe, äh, die im Osten aufgewachsen sind. Äh, es gibt andere Haltungen im Gespräch manchmal. Es gibt eine größere Geradlinigkeit. Äh, ich merk das manchmal auch bei Autorinnen und Autoren, die aus'm Osten kommen, die lassen sich nicht so leicht blenden.
Mhm.
Äh, die lassen sich nicht vom Westen voll, äh, schwurbeln mit schönen Sätzen, sondern haben eine klare Vorstellung, sind oft moralisch eindeutiger in ihren Haltungen. Das hab ich, merk ich sogar noch, wie gesagt, bis heute.
Mhm.
Äh, und aber das war damals eben in Leipzig auch so. Da kann man nur versuchen zu überzeugen, indem man persönlich offen ist, den Menschen offen gegenübertritt und klar sagt, warum müssen wir jetzt diese Bücher machen? Wir hatten das Glück, dass wir damals auch zwei, drei Erfolge hatten. Sybille Berg, heute eine der bekanntesten jetzt Schweizer Autorin, die ist eigentlich in Weimar geboren, haben wir damals entdeckt bei Reclam Leipzig. Das heißt, wir haben die ersten Bücher mit Sybille Berg gemacht. Also Sie brauchen auch solche Glücksfälle im Verlagswesen und dann sind die Mitarbeiter natürlich auch etwas gnädiger, weil sie merken ja, es läuft ja wieder. Leider ist der Verlag dann ja, einige Jahre später ganz geschlossen worden. Also es gibt heute kein Reclam Leipzig mehr.
Mhm. Wie hat sich die Verlagslandschaft, äh, und das Verlagswesen verändert, seit Sie in Tübingen als Lektor eingestiegen sind?
Ja, man muss vielleicht bei mir unterscheiden. Ich hab die ersten, also in Tübingen mit Gunter Naun und dann bei Erich Schmidt in Berlin, das waren zwei Wissenschaftsverlage. Ich hab aber immer ja als Kritiker gearbeitet, wollte eigentlich wechseln vom Wissenschaftsverlag zum Publikumsverlag. Wissenschafts, äh, -verlegen ist schön, aber sie haben oft Auflagen von fünfhundert Exemplaren, wenn das Spezialstudien, Dissertationen, Habilitationen sind. Und den Sprung hab ich zum Glück damals zu Reclam, äh, geschafft. Äh, dann war Hoffmann und Campe wieder ein großer Publikumsverlag später. Nein, es hat sich sehr, sehr viel geändert. Es ist nicht leichter geworden. Es ist in vielen Feldern schwieriger geworden. Es ist bei den, grad wenn wir von den Publikumsverlagen sprechen, die Wissenschaftsverlage haben andere Probleme. Bei den Publikumsverlagen ist die Bestsellerabhängigkeit viel, viel größer, äh, geworden. Nehmen Sie ein aktuelles Beispiel, wenn der Hanser Verlag Elke Heidenreichs Buch Altern im Programm hat, das sich jetzt, glaub ich, sechshundertfünfzigtausendmal innerhalb eines Jahres verkauft hat, dann ist der Hanser Verlag, steht gut da plötzlich. Hat er das nicht, steht er sofort schlecht da. Und die gute Literatur, die ernsthafte Literatur tut sich schwerer. Das war früher jetzt auch nicht so. Man muss nicht so tun, als sei vor 25 Jahren jetzt das Verlagswesen intellektuell golden gewesen. Aber diese Bestsellerabhängigkeit, äh, die geringere Kauflust der Menschen, junge Menschen lesen die neue Welle der New Adults Romance Romane lassen wir mal außen vor. Aber natürlich, äh, das sehen sie auch im Publikumsdator, es kommen eher ältere Menschen zu Lesungen. Das heißt, da haben alle Verlage wahnsinnig viel zu kämpfen. Ich hab in meinem Leben auch als Publizist mit vielen Verlagen zu tun gehabt. Ich kenne wirklich beide Seiten, glaub ich, sehr gut. Und dann merken Sie, dass das gewiss in den letzten zwanzig Jahren nicht einfacher geworden ist. Also ob ich, äh, ich bereue es nicht, aus dem Verlagswesen ausgeschieden zu sein. Ich hab da immer sehr, sehr gerne gearbeitet, aber die Kolleginnen und Kollegen, die heute dort arbeiten, haben, äh, noch mit mehr Problemen zu tun als wir damals.
Wie viel, so 'ne, äh, Elke Heidenreich mit ihrem Buch, wenn die heute sechshundertfünfzigtausend verkauft und das super Zahlen sind, vor zwanzig, fünfundzwanzig Jahren, wie viel hätt sie verkauft?
Nein, bei der, bei diesem Beispiel gilt es nicht. Das ist immer noch eine sensationelle Zahl. Die wäre auch vor zwanzig Jahren sensationell gewesen. Nein, Sie merken's an der, an der, ich sag's immer so, mittleren Belletristik, also nicht jetzt an den ganz bekannten Autoren wie Juli Zeh oder Daniel Kehlmann. Aber wenn Sie einen literarisch interessanten Autor haben, der seit Jahren Romane veröffentlicht, der hätte früher und jetzt aber nicht zum Bestsellerautor, weil seine Texte vielleicht zu kompliziert sind, zu komplex sind, äh, der hätte früher, äh, sechstausend Exemplare vom Hardcover verkauft und die Zahlen liegen heute bei zweidreitausend oft. Also da merken Sie, und das macht's für die Verlage schwer, wenn diese mittlere--Ebene wegbricht, weil auch die Backlist wegbricht. Es gibt Verlage wie sokamm, die haben früher von ihrer Backlist gelebt, von Hermann Hesse, von Bertolt Brecht und Max Frisch. Das ist auch eingebrochen. Das gibt es immer noch. Natürlich werden Hesse Bücher gekauft, aber lange nicht mehr in der Größenordnung. Das ist das Grundproblem oder eines der Grundprobleme, dass diese mittlere Range eingebrochen ist im Verlagswesen.
Wer-werden Bücher aktuell mehr auf Papier oder am Bildschirm gelesen?
Ich glaube, es gibt beides jetzt. Meine Mutter liest, hat irgendwann auf Digitale umgeschwenkt, weil die Schrift vergrößert werden kann. Das war ein wichtiges Argument, äh, für sie. Nein, der E-Book-Markt hat sich in Deutschland fest etabliert, aber er ist jetzt nicht so überschwappend erfolgreich. Die Verlage produzieren müssen-- weniger produzieren. Die Bücher müssen glaube ich teurer werden. Das hört man zwar nicht gerne, aber es ist so. Bücher sind im Vergleich, ich habe in einem Buch mal einen Vergleich angestellt, in einem kleinen Artikel habe ich verglichen die Laugenbrezel-Preisentwicklung seit den Sechzigern mit der Buchpreisentwicklung und die Laugenbrezel hat wahrscheinlich um vierhundert, fünfhundert Prozent sich gesteigert. Beim Buchmarkt hat das selbst nach der Euro-Umstellung nicht funktioniert. Das heißt, die Verlage, man sieht das jetzt schon, müssen beginnen, auch wenn es schmerzhaft ist, die Preise für gebundene Bücher zu erhöhen. Sie müssen sie besser gestalten, schöner gestalten, dass die Leute eben sagen, „Das ist schön auf meinem, äh, Kindle", oder was immer ich an Gerät habe. Aber das Haptische, wenn ein Buch schön gestaltet ist, da müssen die Verlage zulegen, da dürfen sie keine billigen Bücher machen, aber das hat seinen Preis. Und leider ist ja immer noch die Mentalität, ich höre das bis heute bei vielen Menschen, „Och, das ist aber teuer." Wenn ein Buch-- wenn Sie für eine Pizza ein schlechtes Glas Wein zum Italiener gehen, haben Sie das Gleiche ausgegeben na, und sind in anderthalb Stunden mit sechsundzwanzig Euro bedient. Von dem Roman haben sie länger was, aber das ist-- diese Mentalität zu ändern, ist ganz, ganz schwierig.
Gibt's da Länder, wo das Verlage besser machen?
Ich glaube es nicht. Das deutsche Verlagswesen, auch der Buchhand, ist ja im Vergleich zu anderen Ländern immer noch relativ gut besetzt. Man liest jede Woche von, äh, Sterben einer Buchhandlung, kein Nachfolger gefunden. Das ist ein Problem überall. Aber sowohl das deutsche Buchhandlungswesen ist immer noch sehr gut ausgeprägt. Also es gibt einfach immer noch viele-- ich bin ja selber als Autor in solchen Buchhandlungen oft unterwegs. Wie gesagt, ich war in Fellbach in Offenburg, äh, letzte Woche gewesen, in prima funktionierenden Buchhandlungen. Man muss viel mehr tun als Buchhändler:in. Man muss viel arbeiten, seine Kunden binden, dass die nicht zu Amazon wechseln, sondern in den Laden kommen. Auch da ist die Arbeit härter, äh, geworden. Äh, nein, schauen Sie nach Frankreich. Ich kenne mich da in Frankreich vielleicht noch am besten aus außerhalb Deutschlands. Da sind die Bücher hässlicher, liebloser gemacht, aber teurer. Letztlich, also da ist-- hat sich nicht so viel geändert. Anderswo, wo die Preisbindung aufgehoben ist, das ist ja auch eine ewige Diskussion, äh, wird es auch nicht besser. Das hat-- führt nur dazu, dass die Bestseller billiger werden, die John Grishams und Donna Leons billiger werden und die, äh, Bücher in kleiner Flaggen teurer werden würden. Das wäre für die Literatur kein Gewinn.
Was macht gute Literaturkritik aus?
Na, gute Literaturkritik... Erst mal, was gute-- ich bin froh, dass Sie nicht gleich fragen, was gute Literatur ausmacht. (Lachen) Das wäre mindestens so schwer zu beantworten. Nein, eine Literaturkritik, ein Kollege von der Frankfurt Allgemeine hat mal zu mir gesagt, er liest ein Buch, hat dann ein Bauchgefühl, ob es ein gutes oder schlechtes Buch ist und dann versucht er, dieses Bauchgefühl mit Argumenten (Lachen) zu unterstützen. Das ist ja ein subjektives Metier. Ich sage immer, im Weitsprung können Sie sagen, der ist acht Meter fünf gesprungen, der andere ist acht Meter neun gesprungen. Dann haben Sie einen Sieger und einen Besiegten. Das gibt es in der Literatur zum Glück nicht. Sie können nur, und daran messe ich Literaturkritiken, sie dürfen nicht verbiestert, verkopft sein. Äh, sie, äh, müssen Argumente liefern. Und da ist natürlich die lange Erfahrung, die man hat als Kritiker, hat da was für sich. Sie haben plötzlich auch, können Sie vergleichen. Wenn junge Kritiker dann schreiben, „Ja, ein Sensationsbuch, so was hat es noch nie gegeben". Und wenn sie älter sind, haben sie vielleicht doch mal vor zwanzig Jahren schon ein Buch gelesen, das ähnlich war. Also da macht Erfahrung auch was aus. Ich finde immer, Kritiken sollten gut lesbar sein, sollten auch, äh, einen gewissen Witz haben und sie sollten sich – das gehört zum Metier dazu – nicht um Urteile, äh, keine Urteile vermeiden. Es gibt manchmal Kritiken, wo ich sage, „Oh Gott, was, was, wie findet er das Buch denn jetzt?" Oder: „Wie findet sie das Buch?" Weil man dann so weichgespült versucht, die Ecke zu kommen. Da bin ich wieder bei meinem Schiedsrichterwesen. Beim Schiedsrichter musste ich auch sagen: „Das ist elf Meter, das ist eine rote Karte. Geh schon mal duschen", äh, zum Spieler denkend, nicht sagend. Und das ist bei der Literaturkritik-- gehört das dazu. Sie können nicht danach Freunde überall haben, sondern wenn man eine Kritik schreibt... Ich habe gerade vorgestern einen ordentlichen Verriss geschrieben, äh, und da weiß ich natürlich, weil ich das als Autor auch kenne. Das freut einen nicht als Autor, aber es gehört zu diesem Berufsbild nun mal dazu. Bei einem Weintester erwarte ich auch, dass er mir klar sagt, ob dieser Riesling saumäßig schmeckt oder ob er gelungen ist. Da erwarte ich auch Kriterien und in der Literatur gibt es keine objektiven, aber Sie können versuchen, Argumente zu liefern.
Beim Wein sagt man ja manchmal, (Lachen) zumindest wenn man Laie ist und jetzt nicht tief in der Materie, „Der muss mir schmecken. Und was dann ein Sommelier dazu sagt oder nicht, ist mir grad wurscht." Gilt das auch für Literatur?
Ja, ich würde, ich vers-- natürlich, als Kritiker wollen Sie gute Literatur durchsetzen. Was Sie für eine gute, anspruchsvolle Literatur haben, die vielleicht noch in zwanzig Jahren gilt, das wollen Sie durchsetzen. Ich empfehle ja sehr viele Bücher, mache ja viele Veranstaltungen auch mit Buchempfehlungen. Da hängt mein Herzblut daran, dass ich den Leuten Bücher nahebringen will, die ich für besonders gelungen halte. Das ist ganz klar. Aber natürlich, äh, sollte man sich nicht aufs hohe, hohe Ross setzen und sagen, es dürfen nur diese Bücher gelesen werden. Man kennt das aus eigenen Lebenssituationen. Man liest mal Bücher nur, um unterhalten zu werden. Also gegen die leichtere Kost, äh, muss man nicht pöbeln, auch als Literaturkritiker. Man muss nur manchmal sagen, äh, es gibt Unterschiede. Warum ist das eine für mich ernsthafte Literatur? Warum ist das andere reine Unterhaltungsliteratur? Dafür muss man dann Argumente finden, so wie man beim Schlager Argumente finden muss, warum ist der Schlager schlechter als ein Gedicht von Ingeborg Bachmann? Das, äh, sagen alle ja selbstverständlich, aber sie müssen Gründe dafür finden.
Und schaffen Sie es, private Stimmungslagen beim Kritikschreiben auszublenden? Oder schreiben Sie dann nicht und sagen, ich muss wieder in, also nicht so euphorisch oder nicht so, ähm, depressiv jetzt gerade drauf sein, ich muss wieder in 'nen neutraleren Zustand kommen?
Also man muss sich beobachten. Man kann es ja im Nachhinein nicht messen. Wie wäre die Kritik ausgefallen, wenn ich jetzt liebestrunken gewesen wäre? Hätte ich dann diesen Liebesroman besser rezensiert als nicht? Oder wenn ich gerade verlassen worden bin, finde ich da Liebesromane generell blöd oder ähnlich. Also das, äh, muss man, glaube ich, äh, im Hinterkopf behalten. Man kann es selber nicht wirklich messen. Nein, ich versuche das immer zu objektivieren, indem ich dann einfach ein, zwei Tage verstreichen lasse, den Text noch mal lese. Es verändert sich ein Text interessanterweise auch manchmal beim Schreiben. Also man weiß ja ungefähr, wo dann, wenn man eine Kritik geschrieben hat, wohin es gehen soll, aber man, äh, verändert das beim Schreiben durchaus. Wenn ich dann beim Schreiben selber Argumente sammle, dann merke ich, ah, da ist das Buch vielleicht doch schwächer, als ich dachte oder stärker als ich dachte. Also das kann bis zum Schluss, bis der letzte Satz geschrieben ist, kann sich die Werte noch immer ein bisschen, um ein paar Prozent verschieben.
Und, äh, wer Ihre Kritiken sich anhören will, kann das, äh-- Sie sind Podcast-Kollege von mir, sozusagen, ne, im Podcast „Next Book Please" anhören.
Genau, das Hamburger Abendblatt kam vor ein paar Jahren auf, äh, mich zu. Wir haben hier natürlich mit dem Abendblatt viel zu tun, weil die auch über unsere Veranstaltungen hier regelmäßig berichten, wie der NDR auch. Und Thomas André, der Literaturredakteur, hat dann die Idee aufgebracht, weil das Abendblatt sehr, sehr stark mit Podcasts arbeitet. Sie wollen einen Literatur-Podcast machen. Jetzt machen wir, ich glaube, es sind jetzt schon über hundert Folgen auch, äh, alle drei Wochen im Schnitt kommen wir zusammen, besprechen jeweils drei Bücher. Also eine Folge besteht aus drei Büchern, so 'ne knappe halbe Stunde in der Regel. Machen da kein Brimborium drum, aber es ist, es hat eine feste Followerschaft. Wir machen einmal im Jahr im Sommer und im Winter ein Best of. Das heißt, vor Weihnachten, zwei, drei Wochen vor Weihnachten, empfehlen wir jeweils unsere zehn besten Bücher des Jahres. Was hat uns am allerbesten gefallen? Und da merken Sie, das wird häufiger gehört als die normale Folge, weil die Leute dann denken, da kann ich vielleicht noch eine Weihnachtsempfehlung.Abgreife. Nein, ich mache das sehr gerne, weil ich habe immer gerne über Bücher gesprochen. Äh Sie müssen denken, ich habe damals, äh als ich in Tübingen studiert habe und dann promoviert habe, zwischen uns '83 und '89, sechs Jahre an der Volkshochschule Heilbronn unterrichtet. Alle zwei Montage Literaturkurs morgens um zehn im Deutschhof, um fünfzehn Uhr zweiten Kurs und abends noch in der Außenstelle, meistens in Thalheim, noch einen dritten Kurs. Und dann bin ich wieder im Auto zurück nach Tübingen gefahren. Also dieses-diese Lust, äh, auch über Bücher zu sprechen, zu diskutieren und sie vor allem auch zu empfehlen, den Leuten was nahebringt. Du musst jetzt dieses Buch machen. Ich werde jetzt in diesem Herbst ein Buch bei Reclam haben, also Reclam Stuttgart. Da hatte ich, glaube ich, eine ganz glückliche Idee und das schöpft ein bisschen aus meinem Fundus natürlich. Ich mache ein Buch, das wird heißen: Das Ja in Büchern: Literaturtipps für jeden Tag. Das heißt, ich gebe in diesem Buch vom ersten Januar bis zum einunddreißigsten Dezember für jeden Tag des Jahres Schaltjahr inbegriffen, eine Seite, ein Buchtipp, einen Roman, eine Erzählung, ein Gedicht. Also das Buch wird logischerweise ungefähr dreihundertsiebzig Seiten haben und ist sozusagen tauglich, wenn Sie am fünften Oktober schauen: „Was könnte ich denn lesen?" Dann empfehle ich Ihnen eine Seite ganz unterschiedliche Bücher. Also dieses vermitteln wollen, das hat immer zu meinem Berufsleben gehört.
Lesen Sie schnell? Also haben Sie jedes Buch, das Sie auch kritisieren, vom ersten bis zum letzten Buchstaben durchgelesen? Kann man das überhaupt?
Bücher, die ich rezensieren muss, also wo ich auch einen Text zu schreiben muss, natürlich. Das wäre unlauter, das fände ich auch nicht ma-- Wenn man selber Autor ist, äh, will man das auch nicht haben, dass man das Gefühl hat – das passiert manchmal – das Gefühl, dass der Rezensent, äh, eine Figur verwechselt, es nicht wirklich zu Ende, äh, gelesen hat. Nein, das versuche ich streng durchzuführen. Wenn ich über ein Sachbuch nehme, irgendein Fußballsachbuch, dann muss ich jetzt nicht jedes Kapitel vielleicht gelesen haben, um darüber sprechen zu können. Da muss man, glaube ich, unterscheiden. Nein, die Frage wird mir oft gestellt: Äh, lesen Sie schnell? Kann man schnell lesen? Äh, dann zögere ich immer ein bisschen, weil natürlich habe ich eine gewisse Routine im Lesen. Äh, wenn man viel, viel liest, dann liest man etwas schneller, das würde ich schon sagen. Aber das schnelle Lesen nützt ja bei vielen Büchern gar nichts. Wenn ich einen leichten Unterhaltungsroman habe, den kann ich, wie man so schön sagt, runterlesen. Wenn ich, äh, einen Peter Handke Roman von dreihundert Seiten lese, dann kann ich versuchen, ihn schnell zu lesen. Dann werde ich nach Seite dreißig feststellen: „Gott, was war jetzt noch mal vorher? Wer ist diese Figur?" Weil Handke es verschachtelt mir erzählt, Erinnerungsrückblenden macht. Das heißt, da müssen sie langsam lesen. Also es hängt sehr stark von der Textsorte ab, vom, von der Art des Schreibens ab.
Okay. Ähm, wie sieht's denn gerade aus mit der deutschsprachigen Literaturszene?
Ach, ich bin keiner, der immer sagt, früher sei alles besser gewesen, früher hätten wir bedeutendere Bücher geschrieben. Es gibt, glaube ich, keine durchgängigen Wellen mehr. Es gibt keine Ismen. Man hat ja immer versucht, so Begriffe, ob das früher „Neue Sachlichkeit" war, immer ein Begriff für eine Epoche zu schaffen. Und da wüsste ich für die Gegenwart gar keinen so. Na ja, es gibt im Moment diesen Trend, aber der hat nichts mit deutscher Literatur nur zu tun, äh, äh von Autofiktion. Das heißt, das Schreiben über sich selbst.
Mhm.
Das hat stark zugenommen. Da hat die Nobelpreisträgerin Annie Ernaux aus Frankreich erheblichen Anteil daran gehabt, weil die, die nur über sich selber schreibt und der große Norweger Karl...
Früher hat man das am Ende der Karriere oder des Lebens getan.
Genau, da waren die Memoiren, aber heute ist das so und man hat jetzt diesen Modebegriff Autofiktion dafür gefunden, also sich selber erfinden beim Schreiben. Auch im deutschsprachigen Raum gibt es da jetzt etliche Autorinnen und Autoren. Äh, die Verlage sind auf diesen Zug aufgesprungen. Karl Ove Knausgård, der Norweger, mit seinen sechs Bänden „Mein Kampf", jeweils, ich glaube, fünfhundert Seiten, hat natürlich wesentlich dazu beigetragen, äh, dass das populär wird. Diese Welle wird auch wieder zurückgehen, weil ich möchte gern auch mal Geschichten lesen, die in Anführungszeichen „rein erfunden" sind, wo sich ein Autor ins achtzehnte Jahrhundert hineinversetzt und dort eine tolle Geschichte, die nichts mit seinem Dasein in Berlin-Mitte, äh, zu tun hat. Aber im Moment haben wir diese Welle der Autofiktion. Nein, es ist ja bei Literatur immer so: Ich schaue mir gelegentlich mal an: Was ist in den Fünfziger-, Sechzigerjahre erschienen? Wenn Sie mal eine Jahresliste sich anschauen, welche Romane sind da erschienen? Dann werden Sie mit Erschrecken feststellen, dass heute davon achtzig Prozent völlig unbekannt sind, völlig vergessen sind, man den Autor kaum noch erinnert, das Buch schon mal gar nicht. Und dass von der Zeit zwei, drei, vier vielleicht übrig bleiben aus einem Jahr. Das muss man ganz realistisch, auch wenn man heute den Buchmarkt anschaut, sagen. Äh, vieles wird vergessen. Vieles ist vielleicht für zwei Saisons ganz wichtig. Ich wage keine Prognose, ob man in zwanzig Jahren Daniel Kehlmann noch lesen wird. Denken Sie an die großen Nachkriegsautoren: Grass, Siegfried Lenz, Walser, Heinrich Böll. Wer liest heute noch Heinrich Böll? Was ist da geblieben? Also da-- Der Zahn der Zeit, die Kanonbildung, äh, wirkt da ohne, dass man sagen könnte, da sitzt einer am Hebel und sagt: „Du darfst bleiben, du darfst nicht bleiben." Das ist aber auch immer sehr spannend zu beobachten. Das ist übrigens beim Schlager auch ähnlich, äh, im Nachhinein zu sagen: „Warum ist das ein Hit geworden und warum ist der andere Schlager kein Hit geworden?" Da kann man viel Kaffeesatz lesen. Da gibt's viel Argumente, die man im Nachhinein herbeischaffen kann. Aber es gibt zum Glück im Schlager wie im Verlagswesen immer noch diesen großen Überraschungseffekt, dass Bücher eben aus dem Nichts heraus erfolgen werden und, äh, man kann im Nachhinein versuchen zu erklären, warum diese Bücher oder diese Schlager den Zeitgeist vielleicht getroffen haben. Aber es gibt zum Glück viel Unwägbares. Mhm.
Und, äh, die Möglichkeit, dass man jetzt selber publizieren kann, sozusagen im Eigenverlag, recht unkompliziert. Finden Sie das-- Ulf Poschardt hat jetzt so 'n Buch rausgebracht-
(lacht) Weil der andere Verlag es nicht mehr drucken wollte. Natürlich. Genau.
Genau. Ähm, aber, also jetzt-- Ich habe das Buch nicht gelesen. Unabhängig vom Inhalt war man ja schon dann immer abhängig in der Vergangenheit von dem Verlag-
Ja.
-von Entscheidungen von Leuten, ähm, ob man publizieren darf oder nicht. Und heute kriegt man es auch ohne dieses Daumen heben hin. Wie erfolgreich oder nicht, noch mal, äh, sei noch mal dahingestellt. Ähm, beobachten Sie auch diesen Markt so ein bisschen?
Ja, natürlich kriegt man den weniger mit. Das ist ganz-- Ich bin froh, dass es ihn gibt, weil es gibt nun einfach viele Texte. Auch hier im Literaturhaus, äh, kommen immer wieder alle zwei Wochen Texte an, obwohl wir kein Verlag sind. „Könnten Sie mal einen Blick drauf werfen? Ich will das publizieren." Das sind oft Texte, die, äh, nicht für ein großes Publikum bestimmt sind. Das erkennt man nach wenigen Seiten. Aber ich bin sehr froh, dass es jetzt diese Möglichkeit, ob das bei Books on Demand oder bei Amazon Publishing ist, die Möglichkeit gibt, zum Glück für weniger Geld als früher. Ich erinnere mich noch gut vor zwanzig Jahren gab es Bezahlverlage in Berlin, in Frankfurt. Die haben sich eine goldene Nase verdient mit den Menschen, die dann zehntausend Euro denen in den Rachen geworfen haben, damit lieblos ein Buch gedruckt worden ist. Dann stand in den Verlagsverträgen dort immer drin: Ihr Buch wird auf der Frankfurter Buchmesse gezeigt. Ja, das stimmt. Ich habe mir die Stände da mal angesehen. Das sind dann Großstände, wo viertausend Bücher nebeneinander stehen. Dann war das erfüllt, was im Vertrag drin steht: „Ihr Buch wird auf der Messe gezeigt." Nein, das ist 'ne wichtige Form. Und es gibt ja auch Beispiele, wo sich Bücher und Autoren durchgesetzt haben. Mehr im Unterhaltungsbereich, in dem Bereich New Adult, Romance, gibt es Autorinnen und Autoren, die immer noch in diesem Selbstverlag publizieren, ehe sie dann ein verlockendes Angebot vielleicht von DTV oder von Lübbe bekommen. Nein, das ist eine große Entlastung, glaube ich, auch geworden. Ich selber habe immer das Glück gehabt, Verlage zu haben dafür, äh, weil natürlich ich weiß, dass der Verlag etwas leistet, was man als Selbst-- im Selbstverlag nicht so leisten kann: sich um Veranstaltungen kümmern, sich um den Vertrieb kümmern. Da gibt es schon-- Deswegen gibt es ja Verlage, diese Arbeitserlaubnis. Aber die Verlage haben Konkurrenz bekommen, wissen, dass das nicht selbstverständlich ist und das schadet nichts. Mhm.
Was lesen Sie privat ohne berufliche Verpflichtungen?
Ja, das ist, äh...
Jeder Vater den Kicker immer noch?
Das ist, äh... Ja, da habe ich natürlich auch online umgeschwenkt. kicker.de, schaue ich mehrfach am Tag drauf. Äh, ganz klar, ob Sebastian Hoeneß jetzt den VfB verlässt oder nicht. Nein, ich lese leider, das muss ich klar sagen, äh...Fast alles, was ich lese im Laufe eines Jahres. Im Urlaub versuche ich mir zwei, drei Bücher mitzunehmen, die ich nicht in Anführungszeichen verwerte. Das heißt, das meiste, was ich tue, hat wirklich mit Rezensionen zu tun, mit Büchern, die ich selber schreibe, wo ich zur Recherche etwas lesen muss oder mit Buchempfehlungen. Das ist ja auch viel Holz. Ich habe einmal im Jahr oder zweimal im Jahr eine Veranstaltung mit einer Kollegin vom NDR, Annemarie Stoltenberg, wo wir für Buchhändler an einem Sonntag vier Stunden lang jeder 25 Bücher empfehlen aus dem Halbjahr. Also ich muss aus diesem Berufsgrund viel... Das ärgert mich manchmal und ich habe zu Hause, wenn ich durch an meinem Buchregal vorbeischreibe, dann durch ein paar ältere Bücher, Klassiker, wo ich weiß, die habe ich noch nicht gelesen. Die würdest du gerne lesen. „Josef und seine Brüder von Thomas Mann ist so ein Beispiel, das mich immer mahnt, wenn ich am Buchstaben M zu Hause vorbeigehe. Irgendwann werde ich ihn lesen. Nein, das ist ein bisschen zu kurz gekommen, dieses ganz freiwillige, schweifende Lektür. Aber das wird sich vielleicht noch ein bisschen ändern.
Wie sieht die Zukunft des gedruckten Buches aus? Wie die der Vinyl-Schallplatte?
Ich glaube, was ich vorhin schon gesagt habe, es wird teurer werden, es wird geringere Auflagen geben. Es muss nicht unbedingt dann ein Luxusobjekt werden, das gedruckte Buch. Aber in diese Richtung, dass die Verlage individueller etwas machen wollen, dass bestimmte Dinge, vielleicht der reine, pure Unterhaltungsroman, als gedrucktes Buch vielleicht verschwinden wird. Der Taschenbuchmarkt leidet ja am ehesten unter der Online-Verfügbarkeit von Texten. Also als Buchmensch, ich habe noch keinen Buchmenschen getroffen, der gesagt hat in einem Interview: „Das Buch wird sterben. Das hat berufliche Gründe, dass man sich das gar nicht vorstellen kann und mag. Nein, ich glaube, die Verlage werden weniger produzieren müssen. Die Absätze werden im Schnitt runtergehen. Das allein ist noch kein Beinbruch. Man muss genauer hinschauen, was man publiziert und man braucht im Verlagswesen, damit das gedruckte Buch erhalten hat, Glück auch, dass man die richtigen Titel macht.
Wird, seit die Digitalisierung mehr Einzug hält, auch anders über Literatur gesprochen? Oder hast du spannende Social-Media-Kanäle entdeckt?
Ich verfolge Blogs, ich verfolge literaturkritische Blogs, ja, weil das ist einfach ein wichtiger Markt geworden. Die Printmedien, das klassische Feuilleton ist ja im Niedergang begriffen. Viele Tageszeitungen achten nur noch aufs Online. Dann heißt es: „Ja, wir drucken es auch in der gedruckten Ausgabe. Wir sehen, dass ja die Zeitungen, die sicherlich in ein paar Jahren vielleicht gar keine Ausgaben mehr unter der Woche haben – das haben ja manche schon begonnen jetzt damit. Das heißt, die Rolle der Literaturkritik im klassischen Sinne ist geschwunden. Der Einfluss ist geschwunden. Früher, als es noch das literarische Quartett im Fernsehen gab, wusste man, da kann ein Buch gemacht werden, allein durch diese Fernsehsendung. Das ist vorbei. Die Kritik ist immer noch wichtig für Anerkennung im literarischen Raum, für Preise, Literaturpreise spielen ja für Autoren eine wichtige Rolle. Wenn sie weniger Bücher verkaufen, müssen die Autoren Stipendien ergattern, müssen Preise bekommen. Das heißt, die Literaturkritik hat sich erweitert. Da ist in Blogs, wird viel gemacht. Da wird aber auch viel natürlich rein subjektive Bekundung gemacht. Auch da bin ich sehr dafür zu unterscheiden. Also das Kriterium „Ich habe bei diesem Buch geweint", das man oft liest, ist noch kein entscheidendes Qualitätskriterium für ein Buch. Also da hilft genau hinsehen, aber ich bin völlig...
Sollte man immer noch dazu schreiben, warum man geweint hat.
Warum und warum, was das vielleicht auch mit dem Stil des Autos zu tun hat. Nein, da ist die Literaturkritik weitergekommen. Und die Literaturkritik, der Beruf, der ist fast der Missachtung an Heim gefallen. Ich kenne Chefredakteure, die sagen: „Bloß keine Literaturkritik bei uns im Planzen. Das wollen die Leute doch nicht lesen. Ich finde, Kritik ist wichtig in unserer Gesellschaft und das gilt für Literatur wie beim Weintest, wie bei politischer Beobachtung. Wenn Sie nur noch in den Redaktionen sagen: „Ach, wir machen Empfehlungen nur noch, wir machen nur Daumen hoch oder Fünf-Sterne-Wertungen, dann das ist ein Verlust an unserer Gesellschaft, weil eine Gesellschaft lebt davon, in der Literatur wie in anderen Dingen, dass Dinge kritisiert werden, dass man sagt: „Das ist misslungen, das ist schlecht, das ist blöd, das ist gefährlich vielleicht auch. Deswegen, und da gibt es, was die Literaturkritik im Netz angeht, natürlich Dinge, die nur auf reine Empfehlungen, auf Rührungen gehen, die nur von den Inhalten herkommen, die gar nicht mehr danach fragen, wie ein Text gebaut ist und gemacht ist. Aber das muss man abwägen, aber die klassische Literaturkritik muss möglichst spannend bleiben, dann wird sie auch noch gelesen.
Meinst du, so ein Blogger, der Literaturkritiken bloggt? Der ist jetzt 20, in 50 Jahren sitzt ein Podcaster bei ihm und fragt: „Wohin geht es mit der Literaturkritik?, und der sagt: „Man kann gar nicht mehr über Gefühle sprechen und das ist wichtig in der Kritik.
Das Schöne ist, dass wir es nicht wissen. In 50 Jahren, glaube ich, wird der Begriff Podcast völlig unbekannt sein. Wird es den nicht mehr geben. Das ist ja manchmal auch das Beängstigende, dass man nicht weiß, was kommt in zehn Jahren, welche digital... Wenn wir alleine in den letzten 40 Jahren was hat sich von der Langspülplatte zur CD. Ich habe zu Hause noch eine, natürlich Schlager bedingt, eine ganz breite CD-Sammlung, auf die ich immer wieder zurückgreife, aber ich muss schauen, dass ich auch im Abspielgerät noch habe, wo ich meine CDs auch abspielen kann letztlich. Das heißt, der technische Fortschritt ist nicht vorhersehbar in vielen Bereichen. Deswegen werden wir technische Möglichkeit haben, auch über Literatur zu sprechen, die wir uns heute wahrscheinlich zum Glück nicht vorstellen können.
Literaturhaus Hamburg. Du wolltest den Ort oder sie – ich wechsel manchmal, sorry. Alles gut. Als Ort entwickeln, der jetzt nicht nur für die Hochkultur da ist und für die Leute, die sich dafür interessieren, sondern für jedermann. War das vor deiner Zeit hier so ein Ort?
Nein, wir hatten meine Vorgängerin... Ich bin ja der dritte Leiter. Die erste Leiterin war Christina Weiß, die später Kulturstaatsministerin wurde, also in Berlin, erst Senatorin hier in Hamburg. Dann kam Ursula Keller, Literaturwissenschaftlerin, 13 Jahre das Haus geleitet. Da war sicherlich der Literaturbegriff etwas enger. Das heißt, auf eine kleinere Gruppe auch etwas elitärer, vielleicht zugeschnitten. Und das habe ich vom Anfang gesagt: Wir wollen als Literaturhaus der Literatur eine Bühne geben, die es schwer hat auch. Das ist ganz klar. Der Buchmarkt ist enger geworden. Es werden die immer gleichen Autoren rezensiert und propagiert in den Medien. Das heißt, wir müssen Bücher darstellen, die es schwer haben auf dem Markt. Aber ich war immer auch gleichzeitig sehr dafür, dass wir ein breites Spektrum anbieten. Das heißt, man kann am Dienstag hier im Haus einen intelligenten Kriminalroman vorstellen und kann am Mittwoch einen Abend mit slowenischer Lyrik machen, jetzt mal zwei Extrembeispiele zu nennen. Die Menschen werden sich aussuchen, was sie interessiert. Sie werden vielleicht auch mal neugierig sein und sagen: „Jetzt gehe ich mal zu diesem Lyrikabend. Vielleicht interessiert mich das. Das war mir immer wichtig, das Haus nicht sozusagen... Das Haus ist ja sowieso hier ein Kaufmannshaus aus dem 19. Jahrhundert, hat mit seinen Kronleuchtern unten im Saal, wo ja ein Café tagsüber ist, natürlich für manche auch was Ehrwürdiges, kein hipper Jugendort, natürlich. Und deswegen muss man diese berühmte Schwellenangst nehmen. Deswegen muss man sagen: „Ja, hier gehe ich gerne rein, weil es mich interessiert. Wir haben eine Reihe seit vielen, vielen Jahren, das Philosophische Café, wo diskutiert wird – da wird nicht gelesen – mit einem Kulturwissenschaftler, einem Philosophen, einem Soziologen, je nachdem, wer gerade etwas Interessantes geäußert hat. Und das ist auch ein Diskussionsforum, da wird gesprochen und da merken Sie sofort, da kommen junge Menschen plötzlich in diese Formate. Man will ernsthaft über Dinge sprechen. Die Lesung im klassischen Sinn ist totgesagt worden vor zehn, 15 Jahren. Da sitzt einer mit einem Wasserglas, liest aus einem Buch vor, was ich zu Hause lesen könnte, weil es schon als Buch da ist. An sich eine Absurdität letztlich, aber die Lesung hat ihre Popularität bewahrt. Sie hat vielleicht sogar noch zugenommen, weil die Leute wollen eine echte Erfahrung auch machen. Sie sehen bei uns im Saal den Autor ja aus fünf Meter Entfernung, sehen, wie er sich gibt, wie er diskutiert auch über sein Buch. Das heißt, das war immer mein Bestreben hier in diesen 20 Jahren gewesen: Breites Programm, sehr viel Kinder-und Jugendprogramm zu machen. Die nachrückende Generation muss hier an das Haus gewöhnt werden, muss an Texte gewöhnt werden. Da haben wir wirklich, im Vergleich auch zu anderen Literaturhäusern, wirklich ein sehr, sehr breites Programm. Ich habe auch Empfehlungsabende eingeführt, wo wir Bücher empfehlen, Abende, wo wir gestritten haben über Bücher neben der klassischen Lesung, die natürlich immer noch im Mittelpunkt steht. Also möglichst breites Spektrum, möglichst nicht abschreckend, aber schon darauf achten, dass wir literarisch interessante Texte vorstellen.
Ist die größte Herausforderung tatsächlich, die nachfolgenden nachwachsenden Generationen ans Haus, aber auch an Literatur, an das Buch, an den Text An den Literatur zu binden, glaube ich schon, ja. Man hat immer Hoffnung, wenn jetzt die New Adult-Bücher, diese bunt gestalteten Bücher, so einen unglaublichen Zulauf haben – fast alle großen Verlage haben jetzt solche Segmente im Programm –, dann kann man hoffen, dass diejenigen dann später was anderes auch lesen, weil sie mit Büchern in Verbindung gebracht werden. Das würde ich auch so sehen, aber es ist keine Garantie letztlich. Nein, das ist ein großes Problem, weil natürlich die Ablenkung durch andere Medien – das ist ja keine neue Erkenntnis, das haben wir seit 20 Jahren – hat so zugenommen, dass das klassische Buch es schwer hat. Ich spreche auch manchmal mit professionellen Literaturkritikern oder Literaturwissenschaft, die sagen-Die lesen auch-Stellen an sich selber fest, dass ihre Konzentrationsfähigkeit durch das Ständige auf dem Smartphone oder auf dem Laptop herumklicken, dann lese ich da mal ein Häppchen, dann gehe ich dem Link nach.
Und jetzt soll ich plötzlich 500 Seiten einen langsam voranschreitenden Roman lesen? Da sagen selbst professionelle Menschen: „Ich tue mich schwerer damit als noch vor 20 Jahren. Und das muss man beobachten, wie die Jugend sich dann entwickeln wird, ob sie weiterhin diese Texte lesen. Es wird ja auch im Internet viel gelesen. Leute behaupten ja immer, wer kein Buch liest, liest ja trotzdem sehr, sehr viel jeden Tag. Und das muss man genau verfolgen. Ich würde da keine Prognose abgeben wollen.
Wie sieht es mit der eigenen Bildschirmzeit am Handy aus pro Tag?
Auch zu viel. Definitiv zu viel.
Mehr als in Büchern?
Nein, das nicht, weil ich dann schon Ich muss einfach dicke Bücher lesen. Nein, aber ich habe meine Berufs-E-Mails wie alle auf dem Smartphone. Dann fällt mir abends zu Hause im Sessel jetzt noch was ein: „Ach, das musst du mal... Schickst du dir selber noch mal eine E-Mail, damit du es nicht vergisst. Dann fällt mir ein Name eines Schauspielers, den ich im Fernsehen gesehen habe. Dann schaue ich schnell aufs Smartphone, google den. Früher hat man mühsam versucht herauszufinden, wer jetzt in dieser alten Krimifolge mitgespielt hat und wer nicht. Natürlich ist man zu häufig daran, man ist abgelenkt. Man lässt sich aber auch gerne ja mal ablenken. Und die klassischen Fernsehkonsumenten, die gibt es ja immer weniger letztlich. Und da hat das Smartphone sehr, sehr viele großartige Eigenschaften, die ich keine Sekunde missen möchte, aber wir wissen alle, was die Gefahren sind.Ist mit der größte Vorteil eines Buches, also neben dem Inhalt, dass es ein Ende hat?
Jetzt gerade im Vergleich zum Smartphone und diesem Endless Scroll?
Ist ein gutes Argument. Nein, das ist richtig, weil davon ist ja ein Roman auch aufgebaut. Der ist ja konstruiert als ein Ganzes, so wie ein guter Film auch und endet nicht willkürlich, sondern derjenige, der den Film gedreht hat, der das Buch geschrieben hat, hat sich was bei gedacht. Das Schöne ist, dass man dann spekulieren kann. Das tut ja manche Leserinnen und Leser gerne: Was ist denn geworden aus meinem Helden? Deswegen schreiben manche Autoren auch Fortsetzungen. Dann kommen Figuren wieder nach zwei, drei Jahren.Wenn die großen deutschen Schriftsteller eine Fußballmannschaft bilden würden, wer wäre im Tor? Es gibt ja eine Autorin. Fußballmannschaft. Seit vielen, vielen Jahren. Albert Ostermaier steht da im Tor, der Münchner Schriftsteller ist es dann.Ich habe mit Lukas Vogelsang bei Elf Freunde zusammen Genau, genau. Das gibt diese Mannschaft ja. Nein, ich habe mich ja immer auch mit Fußballtexten beschäftigt. Ich habe schon ganz früh, 1995, bei Reclam eine Anthologie herausgegeben, Doppelpass und Abseitsfalle, nur mit literarischen Fußballtexten, weil den großen Fußballroman, den gibt es ja vielleicht noch gar nicht in der deutschen Literatur. Es gibt ein paar Ansätze natürlich. Ich habe mich immer beschäftigt, welche Dichter waren Fußballer. Das würde ich jetzt gar nicht auf die deutsche Literatur nur beziehen. Albert Camus würde ich dann ins Tor stellen. Der hat wirklich in Algerien Fußball gespielt und hat darüber auch geschrieben letztlich. Es ist vielleicht kein Zufall, dass von Schriftstellern – Nabokov ist im Tor gestanden eine Weile – viele im Tor gestanden haben. Diese Position des Torwarts, des Singulären-Felberner auch. Eben wollte ich gerade sagen, wir wissen, wie grausam es sein kann. Ein Torwart hält 88 Minuten blendend und dann macht er einen Fehler und das Spiel ist verloren. Da ist noch etwas anderes, als wenn ein Mittelfeldspieler auch mal nur Wasserträger ist, sozusagen, ist nicht auf jeden Ballverlust ankommt. Nein, diese Verbindung zwischen Fußball und Literatur hat mich immer interessiert, weil ich einfach diese beiden Dinge auch immer bearbeitet habe. Also ich würde aber keine Mannschaft jetzt hinbekommen.Nein, elf Baume nicht, aber so Torabwehr, Mittelfeld, Sturm.Aber an der Camus, für den Sturm bräuchten wir einen richtigen Brecher, einer, der sozusagen Durchsetzungskraft hat. Da hätte früher Günter Gass, glaube ich, eine ganz gute Rolle gespielt. Ich glaube, er konnte selber nicht gut Fußball spielen, aber es gibt Siegfried Lenz, mit dem ich hier in Hamburg immer auch bei Hoffmann und Kampitz zu tun hatte, war Leichtathlet in seiner Jugend. Auch das gibt es häufiger. Also wie könnte man denn im Mittelfeld einen Strategen, wenn wir Frauenfußball mit einbeziehen. Wir brauchen auch welche, die als Wortführerin auftun. Dann könnte vielleicht Juli C oder Thea Dorn eine wichtige Rolle im Mittelfeld spielen. Und einen Abwehrchef hätte ich gerne noch. Wen nehmen wir denn als Abwehrchef? Daniel Kehlmann kann nicht alles machen, letztlich. Vielleicht würde ich doch Daniel Kehlmann in die Mitte ins Abwehrzentrum stellen. Er ist ja teilweise sowohl Österreicher als auch Deutscher. Dann kann er eine Doppelrolle gleich ausfüllen.Ein Trainer? Ja, Ewald Lienen. Ewald Lienen. Ich habe mit Ewald Leenen selber eine Veranstaltung gemacht, als er seine Autobiografie vor ein paar Jahren veröffentlicht hat. Da hatten wir sehr kurzweilige Abte. Sein Sohn war mein Praktikant. Wir hatten zwei Veranstaltungen in Hamburg, wo ich ihn moderiert habe. Und bei Ewald Leenen war es lustig, wenn wir dann über seine Spiele gesprochen haben. Auch in seinem Buch kommt das vor. Da beschreibt er eins der Szenen von Spielen, die sehr umstritten waren, als er für Bielefeld gespielt hat. Und wenn Ewald Leenen dann über Schiedsrichterentscheidungen auch im Nachhinein spricht, habe ich gesagt: „Lieber Herr Leenen, alles falsch. Was ist alles falsch? War eine klare Rote Karte. Also da ist das Trainerblut noch so in ihm drin, dass er da Schiedsrichter-Entscheidungen sehr, sehr schwer akzeptieren kann. Da haben wir wunderbar auf der Bühne über einzelne Szenen gestritten, wo er fest überzeugt war, dass das falsch hat. „Ja, Herr Leenen, ich habe mir das noch mal auf YouTube angesehen, diese Szene. Eine klare Rote Karte, muss ich Sie enttäuschen. Aber er wäre, glaube ich, für diese, weil er selber ein belesener Mann ist: „Wenn ich nicht Christian Streich nehme, dann nehme ich Ewald Lienen als Trainer.Was für ein Schlager würde Heinrich Böll schreiben? Oder würde er davon die Finger lassen? Er würde davon die Finger lassen. Es gibt Beispiele. Fritz Grashoff, ein heute leider ganz vergessener Dichter, der schöne Gedichte geschrieben hat, Erzählungen, hat nämlich mit Kapitän auf die Reise geschrieben. Es gibt einzelne Dichter, die dann wirklich auch aus Geldgründen mal Schlagertexte geschrieben haben. Jean-Paul Sartre hat für Juliette Greco ein paar Chancens geschrieben. Ich sehe jetzt ihn, ich überlege gerade in der deutschen Dichterlandschaft keine akut geeigneten Kandidaten, die jetzt sozusagen für den Eurovision Song Contest den deutschen Text schreiben könnten.Welches Buch sollte jeder Schlagerfan gelesen haben und welchen Schlager jeder Literaturprofessor gehört haben? Ja, ich glaube, Literaturprofessoren sollten einen meiner Lieblingsschlager von Christian Anders „Es fährt ein Zug nach nirgendwo. Das ist ein Lied, was so viel Symbolkraft hat, dass man ständig einsetzen kann. Die Gegenfrage war, welcher...Wo haben wir... Welches Buch sollte jeder Schlagerfan gelesen haben?Gibt es da eine Voraussetzung? Er sollte vielleicht, nein, ich würde sogar empfehlen, dass er einen Gedichtband von Rilke oder von Hermann Hesse nimmt, damit er die Unterschiede auch vielleicht merkt, dass er merkt, da könnte der Schlagertext, wenn ich an neue Texte von Helene Fischer denke, da ist doch textlich ein bisschen dünn, was da gesungen wird. Und da kann selbst ein Hermann Hesse-Gedichtbann vielleicht sagen: „Ja, es kann doch ein bisschen besser werden.“Und wenn ihr Leben ein Roman wäre, wer sollte ihn schreiben? Ich habe ja selber, wie gesagt, in ein, zwei Büchern schon viel von mir selber... Auch über meinen Vater habe ich ein Buch vor einigen Jahren geschrieben. Wer sollte mein Leben schreiben? Das ist eine höllisch schwere Frage.
Wer hätte das vor allem auch Lust zu? Was verspricht sich derjenige dazu, der über mein Leben ein... Ich würde Oliver Maria Schmitt bitten. Das ist doch, glaube ich, die beste Lösung. Oliver Maria Schmitt soll meine Biografie schreiben. Er wird begeistert sein, wenn er von diesem Gedanken hört.Ich werde es ihm weiterreichen. Bitte. Am Ende haben wir immer noch entweder oder. Da würde ich jetzt dazu kommen. Ich versuche es, ja. Thomas Mann oder Hermann Hesse?Thomas Mann.Lyrik oder Prosa?Prosa.Klassiker oder Gegenwartsliteratur?Gilt nicht die Frage: Morgens oder abends lesen?Morgens. Taschenbuch oder Hardcover? Beides. E-Book oder gedrucktes Buch? Gedruckt. Lesezeichen oder Eselsohren?Lesezeichen.Sachbuch oder Roman?Roman.Bibliothek oder Buchhandlung?Buchhandlung.Mit Anmerkungen versehen oder unberührte Seiten?Zarte Anmerkungen.Autobiografisches oder fiktionales Schreiben?Fiktionales.Schnell lesen oder langsam genießen?Langsam genießen muss aber manchmal schnell sein.Ein Buch mehrmals lesen oder immer neue Bücher lesen?Manchmal mehrmals lesen.Bücher verleihen oder für sich behalten? Nicht verleihen. Literaturkritik oder Leserstimmen?Literaturkritik.Geordnetes oder chaotisches Bücherregal?Geordnet.Erste Ausgabe oder Taschenbuch?Auch gern Taschenbuch. Neckar oder Elbe? Neckar. Trollinger oder Astra? Trollinger. Spätzle oder Fischbrötchen? Spätzle. Dialekt oder Hochdeutsch? Hochdeutsch. Berge oder Meer? Beides. Stammtisch oder Salon? Salon. Zu Hause oder unterwegs? Gerne auch zu Hause. Heilbronner Kätchen oder Hamburger Michel? Wenn ich die Kätchenfiguren sehe, Hamburger Michel. Halbronner Leibgericht oder Franzbrötchen? Leibgericht. Fasching oder Schlagermove? Schlagermove. Süddeutsche Zeitung oder Hamburger Abendblatt? Süddeutsche Zeitung. Autofahren oder Bahnfahren? Häufiger Bahn, fahre aber gern Auto. Andrea Berg oder Joy Flemming? Joy Flemming. Fußballkommentar oder Literaturkritik? Fußballkommentar. Wollte ja mal Sportreporter werden. Stadion oder Bibliothek? Beides. Netflix oder Arte? Netflix. Laut oder leise? Laut. Streaming oder CD? Immer noch häufiger CD. Podcast aufnehmen oder Text schreiben? Podcast aufnehmen. Lesereise oder Schreibklausur? Lesereise. Literaturpreisverleihung oder Fußball-Pokalfinale? Fußball-pokalfinale. Frühaufsteher oder Nachteule? Frühaufsteher. Handschrift oder tippen? Beides. Stille oder Hintergrundmusik beim Arbeiten? Stille. Strukturierter Tag oder spontane Ablauf? Strukturierter Tag. Anzug oder casual? Casual. Analoger Kalender oder digitale Terminplanung? Analoge Kalender. Telefon oder E-Mail? E-mail. Viel reden oder viel zuhören? Wahrscheinlich zu viel reden. Moderation oder Vortrag? Vortrag. Und zum Abschluss: Optimist oder Realist? Realist. Rainer Moritz, herzlichen Dank. Ich bedanke mich. Hat sehr viel Spaß gemacht, war sehr interessant. Danke schön. Tschüss. Tschüss.
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